50% weniger Menschen als 2019 – das ist die bittere Zahlen-Bilanz des ersten nachpandemischen Kirchentags in Nürnberg. Lediglich 70.000 Menschen pilgerten in die wunderschöne fränkische Metropole, um Typisches zu erleben: Bibelarbeiten, politische Diskurse, Konzerte, viele kleine und große Programmperlen, volle Innenstadt, tausende Pfadfinder mit Schildern („Da lang!“). Doch von Beginn an war klar, dass der Kirchentag geschrumpft ist: Nicht nur die Besucher fehlten, auch die Promis und ganz großen Musikacts suchte man vergebens.
Das wäre ja nicht unbedingt schlecht: Weniger ist manchmal mehr. Aber wer hoffte, der Kirchentag hätte die Corona-Zwangspause zur Neuorientierung oder gar zu einer Modernisierung genutzt, der wurde enttäuscht. Die Struktur des Protestantentreffens hat sich keinen Zentimeter verändert. Es war der wohlbekannte Mix aus Selbstvergewisserung, Selbstkritik, Kritik von „draußen“ an der Kirche, kirchlicher Kritik an „draußen“ und einer Menge Gemeinschaftsgefühl.
Und wer dachte, die Fragen nach der Zukunft der Kirche und dem Umgang mit dem Mitgliederschwund wären inzwischen so drängend, dass man sie vielleicht zentral behandeln würde, blieb ebenfalls enttäuscht. So gut wie alle Veranstaltungen des Zentrums „Zukunft Glaube und Kirche“ und „Digitale Kirche und Gottesdienst“ waren nach Fürth ausgelagert, weit weg vom Zentrum des Geschehens am anderen Ende des Ballungsraums. Enttäuschung darüber hörte man immer wieder.
Nun muss man fairerweise sagen, dass selbst die Fahrt vom Messegelände zur Stadthalle Fürth mit ihren 33 min kürzer ist, als an den meisten anderen Kirchentagen jede Fahrt zwischen zwei beliebigen Veranstaltungsorten. Und die Stadtgrenze zwischen Nürnberg und Fürth ist nur am Namen der entsprechenden Haltestelle erkennbar. Und trotzdem: Politisch scheint es ein denkbar ungünstiges Signal zu sein, die Fragen nach der Zukunft in die Nachbarstadt und damit an den äußersten Rand des Kirchentags zu verlagern.
Aber Moment! Was, wenn der Rand der einzig richtige Ort ist, um Zukunft zu finden? Was, wenn die Zukunft der Kirche gar nicht im Zentrum einer von Traditionen, Strukturen und Machtinteressen bestimmten Organisation möglich ist? Was, wenn die Zukunft der Kirche allein dort erblühen kann, wo sie zwar gerade noch Kirche ist, aber eben auch sehr weit weg von vielem, was die gerade mit Pauken und Trompeten untergehende Kirche ausmacht?
Wo Bewegung, Experiment, Scheitern, Dynamik und Unangepasstheit möglich und gewünscht sind. Wo man Machtlosigkeit statt Macht feiert. Abenteuer statt Richtigkeiten. Wo es unberechenbar und gefährlich ist. Wo man in Sackgassen rennt und alle jubeln, weil man dort wichtige Erfahrungen sammelt. Wo man Unerhörtes ausprobiert. Wo man den Menschen zuhört, statt ihnen predigt. Wo Gespräch auf Augenhöhe stattfindet. Wo alle mithelfen dürfen. Und mitbestimmen.
Bei den Pionier:innen. Den Verrückten. Den Rebell:innen, den Idealist:innen, den Visionär:innen, den Unbequemen, die sich in kein Schema pressen lassen. Und in keinen Kirchenentwicklungsplan. Und die im Zentrum unserer Strukturen kläglich von diesen erdrückt würden.
Was, wenn die Zukunft nur am Rand der Kirche möglich ist? Und die einzige Chance der Kirchen, eine Zukunft zu haben ist, ihre volle Energie an eben diese Ränder fließen zu lassen?
Danke Kirchentag, für die goldrichtige Platzierung von #digitaleKirche, CoWorking, Fresh X und all den anderen Rebellen. Lasst sie dort, gebt ihnen den Freiraum, Dinge neu zu denken und neu zu machen. Doch jetzt ist auch die Zeit, ihnen eure Energie zu schicken. Am besten richtig viel. Damit die Kirche als Ganze eine Chance auf Zukunft hat.