Ich! Du? Wir. – Was trägt wirklich zu einem Gemeinschaftsgefühl bei? Wie sieht ein Gegenentwurf zu Egoismus und extremer Individualisierung aus? Was brauchen Menschen, um sich solidarisch zu anderen zu bekennen? Wie kann man den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken?
Diese Fragen beschäftigten nicht nur den Fernsehsender ARD. Diese hatten jüngst eine Themenwoche “Wir gesucht – was hält uns zusammen” initiiert und in diesem Zusammenhang dazu auch eine Umfrage an Infratest dimap in Auftrag gegeben. Die zum Teil erschreckenden Ergebnisse wurden Anfang November 2022 veröffentlicht. Der Grundsatztenor der Ergebnisse lautet nämlich: Es steht nicht gut um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. 64% der Befragten bewerten diesen als schlecht. Dabei gibt es doch seit jeher Mechanismen und Institutionen, die eine gesellschaftliche Solidarität fördern sollen. Neben kulturellen Einrichtungen, Vereinen, Bildungseinrichtungen oder auch der Politik, gehören Kirchen dazu. Sollte man zumindest meinen. Doch laut der Umfrage ist das nicht mehr so.
76% der Befragten sehen Sportvereine sowie Kultur- und Freizeiteinrichtungen für den gesellschaftlichen Zusammenhang verantwortlich. An zweiter Stelle wurden von 56% der Befragten Schul- und Bildungseinrichtungen genannt, gefolgt von Gewerkschaften (49%), Zeitungen, Fernsehen und Radio (48%), Wirtschaft und Unternehmen (45%) und den sozialen Medien (32%). Die Schlusslichter bilden mit 28% die Politik und Parteien sowie die Kirchen (27%). Um das noch mal zu verdeutlichen: Nur ein Drittel der Befragten halten die Kirchen für fähig, eine gesellschaftliche Einigkeit zu fördern. Oh weia!
Ist das nicht der Kernauftrag der Kirchen? Lautet das Selbstverständnis der Kirchen nicht, dass sie für alle Menschen einladend sein wollen? Dass sie allen Menschen in der Liebe Gottes begegnen wollen, egal, welcher Herkunft sie sind, welche (politische) Haltung sie haben, wen sie lieben oder wie sie ihr Leben gestalten? Ist nicht im Glauben selbst das Konzept von Zusammenhalt und Solidarität inhärent: In der Trinität, in der Vorstellung von Kirche als ein Leib, in den Erzählungen über Jesus, der so viele verschiedene Menschen um sich versammelt hat und erreichen wollte?
Was läuft alles schief, dass Kirche so nicht gesehen wird? Dass sie diesem Auftrag offenkundig nicht nachkommt/nachkommen kann? Ist Kirche so in ihren eigenen Strukturen und Themen gefangen, dass sie es nicht mehr schafft, über den Tellerrand, über die Kirchenmauer, zu schauen? Verwaltet sich Kirche zu viel, zu doll, zu Tode und verliert über den Diskussionen rund um notwendige Reformprozesse die Menschen aus dem Blick? Hat Kirche längst Verantwortung gegen Verwaltung getauscht?
Müssten wir uns also weniger um frische Ausdrucksformen von Kirche kümmern und mehr darauf konzentrieren, wirklich alle Menschen willkommen zu heißen und Versöhnung in alle Richtungen anzustreben? Müssten wir uns wieder mehr um unsere Haltung und weniger um Formen kümmern? Oder geht beides Hand in Hand? Egal, wie die Lösung für die einzelnen Gemeinden, Initiativen, kirchlichen Werke und die beiden Volkskirchen insgesamt aussieht – die Umfrageergebnisse zeigen, dass akuter Handlungsbedarf angesagt ist.