inspiriert

„Wir wollten einen König

13. November

Warum wir in Strukturen leben, die religiösen Missbrauch begünstigen

Jason Liesendahl kennt sich aus: Mit schwierigen Strukturen. Mit Machtmissbrauch. Mit religiösem Missbrauch. Und genau deshalb, haben wir mit ihm gesprochen und gemerkt: Es ist gar nicht mal so leicht, über spirituellen, geistlichen oder religiösen Missbrauch zu sprechen. Abgrenzungen und Definitionen zu finden. Über Täter und Opfer zu urteilen. Lösungen und Antworten zu finden. Aber lest selbst … 

In den vergangenen Jahren ist das Thema des religiösen Missbrauchs immer häufiger aufgeploppt. Es gab den Podcast Toxic Church, diverse YouTube-Clips, Bücher, Magazinbeiträge, Social-Media-Features. Wie bewertest du diese Debatte? Und ist es überhaupt eine Debatte?

Jason Liesendahl: Ich glaube, dass entscheidend der Podcast „Rise and Fall of Mars Hill“ gewesen ist, der Mitte 2021 startete und – aus meiner Sicht – einen gewissen Tabubruch begangen hat. Das war das erste Mal, dass von innen heraus, von Christianity Today finanziert, eine Recherche stattgefunden hat. Deutlich kritisch war, nicht apologetisch, sondern die versucht hat, von innen Dinge anzusprechen und aufzuarbeiten und eine Debatte anzustoßen. Das ist auch in Deutschland aufgegriffen worden; zum Beispiel in dem Leiterblog von Lothar Krauss und auf Social Media. Grundsätzlich würde ich aber sagen, dass es stark verpönt ist, innerhalb von religiösen Kreisen selbstkritisch über derartige Themen zu sprechen. Ich erlebe da eine Wagenburg-Mentalität. Immer, wenn von säkularen Medien Berichte kommen, wird aus allen Kanonen zurückgeschossen, die Berichte werden diskutiert und zerrissen. Es gibt wenig den Reflex: Lasst uns mal darüber nachdenken, ob da nicht was dran sein könnte. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass die kritisierten Machtdynamiken wenig inhaltlich aufgegriffen werden und man sich selbst auch gar nicht so genau hinterfragen möchte. Michael Herbst und Thomas Häry beschreiben das in ihrem Buch „Von der dunklen Seite der Macht“ so: Wir wollten einen König. Ein bestimmtes System, das in den letzten vierzig, fünfzig Jahren extrem erfolgreich war, ein System, das nach dem Prinzip des CEO läuft. Und das führt eben zu der bereits erwähnten Wagenburg-Mentalität und dazu, dass auftauchende Berichte von religiösem Missbrauch als Einzelfälle abgetan werden. Es wird nicht systemisch hinterfragt. Es scheint auch Debatten zu geben, aber eher hinter den Kulissen. Man trägt sie nicht nach außen und es scheint, als versuche man hinter verschlossenen Türen den öffentlichen Schaden zu begrenzen und es nicht offen zu diskutieren.

Wir wollten einen König. Ja, genau. Obwohl wir ein Priestertum aller Gläubigen leben, wollen wir doch jemanden haben, der vorn auf der Kanzel steht und uns sagt, wie wir zu glauben und zu leben haben. Wir wollen doch wissen, was in dieser immer komplexer werdenden Welt richtig und was falsch ist.

Ich würde sagen, dass diese Haltung zumindest einer der Risikofaktoren ist. Dieses Denken, dass man sich in eine Gemeinschaft hineinbegibt und sich bewusst unter eine Leiterschaft stellt, ermöglicht es leichter, dass man auch einen Teil seiner Mündigkeit abgibt – egal, ob bewusst oder unbewusst. Und wenn diese Leiterschaft missbräuchlich benutzt wird, also diesen Faktor ausnutzt für die eigene Bereicherung, das eigene Ego, die Kompensation eigener Unsicherheiten, dann haben wir genau das, was man als spirituellen Missbrauch definiert. Dafür gibt es in unserem kirchlichen System eine gewisse Anfälligkeit. Ein Beispiel wäre die CGK in Köln mit dem Pastor Terry Jones: Da gab es Menschen, die ohne Entgelt in der Firma der Gemeinde gearbeitet und sich finanziell haben ausbeuten lassen, während Terry Jones, sich als Sprachrohr Gottes inszeniert hat. Und die Lehre, die ein Prophet Gottes verkündet, darf nicht hinterfragt werden. Als es zum Crash kam und sich Terry Jones mit dem Geld der Gemeinde in die USA abgesetzt hat, gab es im ganzen Kölner Gebiet viele Gemeinden, die Menschen aus der CGK aufgenommen und für sie gesorgt haben. An diesem Fall kann man gut sehen, dass da Macht missbräuchlich ausgeübt wurde.

Jason Liesendahl beschäftigt sich mit vielen theologischen
Herausforderungen: Dekonstruktivismus, progressives
Christentum und mit Fundamentalismus.
Für letzteres hat er auch einen Lehrauftrag an der
CVJM-Hochschule in Kassel.

Aber wo zieht man die Grenze? Kirche wird immer wieder vorgeworfen, nicht mehr klar Stellung zu beziehen, wir Christen berufen uns auf Jesu Worte, dass er selbst die Wahrheit ist und wir wollen auch Antworten auf unsere Fragen haben. Sind wir selbst schuld, wenn wir ein System wollen, dass geistlichen Missbrauch quasi unabdingbar macht?

Ich glaube, dass man von Risikofaktoren sprechen kann. Und Risikofaktoren wären für mich eine sehr zentral auf eine Führungsperson ausgerichtete Gemeindestruktur. Wo es eine – vielleicht auch durch Social Media befeuerte – Stimme gibt, die extreme Reichweite erzielen kann. Im Fall von Hillsong konnte man da auch von Star-Allüren sprechen. Wenn ein Pastor wie ein Rockstar gefeiert wird, sich mit Prominenten umgibt und ablichten lässt, das in den sozialen Medien teilt, tausendfach geliket wird, dann kann eine ganz unheilsame Dynamik entstehen. Die Reichweite erfährt dadurch eine Vergeistlichung, nach dem Motto: Reichweite bedeutet automatisch auch Missionspotenzial.

Ich glaube, dass da auch der Machtdiskurs von Hannah Arendt hilft. Sie hat dargelegt, dass Macht nicht in die Hand einer Person gehört, die dann Macht über ganz viele Menschen hat, sondern dass Macht Unterstützer:innen braucht. Es gibt neben der Person oben mit Macht weitere Menschen, die das System ermöglichen und unterstützen. Personen, die diese Posts liken und teilen, die zu den Veranstaltungen gehen und die Verehrung dieser Leitungsfigur mitmachen. Und dann entsprechend auch bestimmte Fehlentwicklungen mittragen, mitdecken und die auch bestimmte Narrative weitererzählen, nach dem Motto: Du darfst Leitungspersonen nicht kritisieren. Das ist ein Narrativ, das Macht bestärkt und von vielen Leuten tradiert werden muss, die da mit drin hängen.

Die ja vielleicht auch Opfer geistlichen Missbrauchs in diesem Konstrukt sind, ohne das selbst zu merken.

Ja. Ich glaube, dass man ganz schwer zwischen Täter und Opfer differenzieren kann. Am Beispiel der CGK, sieht man das gut. Das sind Menschen, die daran kaputtgegangen sind, obwohl sie das System gestützt haben. Die nicht nur mitgemacht haben, sondern das aus vollem Herzen mitgetragen und daran geglaubt haben.

Das ist ein spannender Gedanke. Wann fängt ein Opfer an, Täter zu werden und wie viel Opfer ist ein Täter? Würdest du sagen, dass religiöser Missbrauch primär in konservativen, charismatischen oder gar fundamentalistischen Strukturen auftritt oder sind auch „normale“ Parochialgemeinden nicht davor gefeit?

Ich glaube, dass es auch da wieder Risikofaktoren gibt. Wenn eine Spiritualität gelebt wird, die nicht unterscheidet zwischen dem, was Gott sagt und dem Verständnis von Menschen. Wenn es kein Korrektiv gibt, keinen Zweifel, keine Unschärfe, dann ist das ein Risikofaktor. Einfach, weil geistlicher Missbrauch dadurch entsteht, dass Machtmissbrauch durch fromme, geistliche Argumente gerechtfertigt wird. Ohne dass es dafür ein Korrektiv gibt. Was es ja aber gäbe. Es wäre ja eine Möglichkeit zu sagen, dass das, was ein Mensch für Gottes Willen hält, anhand der Bibel überprüft werden muss. Oder dass man generell zwischen der Auslegung der Bibel und dem Wort Gottes unterscheidet. Wo es das nicht gibt und man leichthin sagt, so spricht Gott, da wird es gefährlich. Und das kann in unterschiedlichen Gemeinden stattfinden.

Ich merke, es wird schwammig für mich. Denn natürlich geben wir doch in Hauskreisen, Zweierschaften oder auch in kirchlichen Gruppen Eindrücke an andere weiter: Ich hab geträumt, dass Gott dieses oder jenes tun will. Ich glaube, Gott will dir dadurch sagen, dass … Natürlich kann man selbst entscheiden, ob man das glauben will oder nicht, aber dennoch lebt die christliche Gemeinschaft auch davon, dass man das an andere weitergibt, was man glaubt, von Gott verstanden zu haben.

Die Motivation spielt dabei eine große Rolle. Geistliche Leitung hat ja eine Legitimation und den Auftrag dem Wohl der Menschen zu dienen. Leitende sollen helfen, unterstützen, ermutigen und befähigen Jesus nachzufolgen. Wenn eine Leitung allerdings diesem Anspruch nicht gerecht sind, sondern andere Motive eine Rolle spielen, wie Bereicherung, sexuelle Ausbeutung, die eigene Anerkennung, dann wird diese Macht nicht eingesetzt, um Menschen zu befähigen und aufblühen zu lassen. Die Macht wird für eigene Zwecke missbraucht, für Motive eingesetzt, die Menschen ausnutzen. Wenn dann hinzukommt, dass diese Leitungsmacht, die ja erstmal neutral ist, kein Korrektiv hat, kein Gremium sie kontrolliert oder kritisch beäugt, wenn es kein Schutzkonzept gibt, dann sind wir beim spirituellen Missbrauch. Das sind natürlich alles keine harten Kriterien, deshalb ist das von außen auch so schwer zu beurteilen. Gerade deswegen brauchen die Menschen, die davon betroffen sind, Gehör. Man muss sie ernstnehmen und ihre Hinweise aufnehmen.

Macht ist wie ein Brennglas und zeigt Dinge offensichtlich, die schon lange da sind. Wir sollten aufhören, die Geschichten der Betroffenen als Schilderungen Einzelner abzutun und stattdessen darüber nachdenken, dass beispielsweise Veranstaltungsformate und ganze Organisationen so aufgebaut sind, dass sie bestimmte Machtdynamiken überhaupt erst entstehen lassen. Vielleicht ist es genau das Problem, dass diese Formate so erfolgreich sind; dass die so groß sind, dass eben bestimmte Machtkonstellationen überhaupt erst entstehen können. Und dass wir deswegen auch die Kehrseite davon, also den Machtmissbrauch systemisch betrachten müssen. Das Thema Macht zeigt sich schon allein daran, wie unsere Gottesdiensträume aufgebaut sind. Früher hatte man die erhöhten Kanzeln, die so gebaut waren, dass sie nur für Männerkörper geeignet sind. Die Reihen sind alle nach vorn ausgerichtet – die ganze Architektur des Raumes gibt gewisse Machtstrukturen vor. Und dann die Institution selbst, die das bekräftigt, was die Person vorne zu sagen hat. Auch hier wieder eine Machtdynamik, hinter der eine ganze Institution steckt. Das bedeutet für uns, wir müssen machtsensibler werden. Dafür gibt es keine einfachen Antworten und auch noch keine Strukturen. Aber die drängende Frage: Wie können christliche Organisationen, Gemeinden und Gemeinschaften machtsensibel werden?

Man sollte also hinter das Thema keinen Punkt machen, sondern wohl eher einen Doppelpunkt. Die Fragen, wie es weitergeht, sobald geistlicher Missbrauch geschehen ist und wie man die Strukturen verändert, damit das weniger oder gar nicht passiert, können nicht jetzt geklärt, sondern müssen erarbeitet werden.

Genau, aber es ist eben wichtig, sich zu fragen, wie es weitergeht, wenn religiöser Missbrauch geschehen ist. Denn da hängt eine Menge dran. Je nach Größe der Organisation, in der so etwas passiert, stecken noch andere Dynamiken drin. Man kann eine große Organisation nicht einfach vor die Hunde gehen lassen, zumal sie auch viel Positives bewirkt hat. Und was macht das eigentlich mit der Glaubwürdigkeit des Glaubens, wenn religiöser Missbrauch zutage tritt? Wie können Räume geschaffen werden, wo Erzählungen und Erlebnisse religiösen Missbrauchs sein dürfen? Wer kümmert sich um diese Menschen, angesichts der Spannung, dass da riesige Organisationen sind, die Beharrungskräfte und Schutzreflexe haben? Es gibt eine Studie, die besagt, dass die meisten Menschen, die von religiösem Missbrauch betroffen sind, ihren Glauben danach nicht an den Nagel hängen, sondern die sich andere Gemeinden suchen werden. Was bedeutet das dann für diese neuen Gemeinden, die Schutz- und Integrationsraum für Menschen mit geistlichen Missbrauchserfahrungen sind. Wie gehen wir als Christen mit dem Thema in der Öffentlichkeit um? Wie verhalten wir uns dazu, wenn spiritueller Missbrauch in den sozialen Medien thematisiert und diskutiert wird? Das sind aus meiner Sicht offene Fragen, die noch nicht intensiv genug besprochen wurden. Wir müssen sprachfähiger werden und besser darin, diese Dinge auch zu durchschauen. Wie kann Kirche selbstkritischer werden und auch reumütiger? Wie kann sie zugeben, dass es in diesem Feld ein Problem gibt? Damit werden wir uns noch mehr beschäftigen müssen.

Autorin, Lektorin, Redakteurin von Beruf. Im Fresh X-Netzwerk und an der CVJM-Hochschule. Mitarbeitende, Mitdenkende, Mitgestaltende in Kirche. Suchende, Sehnende, Scheiternde, Fragende, Findende, Fordernde im Privaten.