Was Kirche und Busbahnhöfe eint
Der Zentrale Omnibus-Bahnhof in Hamburg ist ein wilder Ort. Dort mischen sich Reisende, die billig mit den grünen Bussen von A nach B wollen, ankommende und abfahrende Wanderarbeiter:innen, zumeist aus Osteuropa und die Hamburger Drogenszene. Dazwischen Polizei. Völlig absurd wirkt mittendrin eine Anzeige, die einen Bus in die Toskana ankündigt. Nirgends ist die Toskana weiter weg als vom ZOB in Hamburg.
Süchtige und Kirche
Crack und Freebase haben dem Thema Drogen in der Innenstadt eine neue Dimension gegeben. Ein Kügelchen, die Ladung einer Pfeife, ist für 10 Euro zu haben. Zehn Minuten dauert der Rausch, wenn es gut läuft. Dann beginnt der Kreislauf von Neuem. Die Süchtigen rund um den Bahnhof betteln nahezu unentwegt. Einer dieser Bettler hat mir etwas über Kirche beigebracht. Hier gebrauche ich das Wort im Sinne von „Staatskirche“, also abhängig von Kirchensteuer.
Der Mann sagte seine Variante des Bettlerliedes auf: „Ich bin zurzeit leider obdachlos.“ Der Mann ist höflich und klug. „Ich gebe …“ Er unterbricht mich: „Sie geben nie etwas.“ „Doch. Einmal am Tag.“ Er: „Das ist sehr gut.“ Als er es sagt, weiß er noch nicht, dass er heute dran ist.
Ich gebe ihm zwei Euro. Das ist mein Satz. Ich weiß, dass Menschen damit Alkohol oder Drogen kaufen. Oder tatsächlich was zum Essen. Keiner bettelt ohne Grund. Für mich muss niemand am Entzug krepieren. Und ich will auch niemanden in dieser Situation mit einem ungefragt gereichten Brötchen demütigen. Er sagt: „Der liebe Herr im Himmel wird das … Sind sie religiös?“
Ich sage Ja und er hat gerade wirklich „der liebe Herr im Himmel“ gesagt. Er ist Muslim und fährt fort: „Also jeder hat einen Engel. Der berichtet Gott, dem lieben Herrn im Himmel. Und der schaut, was sie und alle Menschen mit ihrem Vermögen machen.“
Ich sage: „Tun Sie mir einen Gefallen.“ Er: „Kauf kein Zeug davon.“
„Nein. Bitte holen sie sich Hilfe.“ Ich nenne eine Einrichtung. „Sie haben das Potenzial. Sie sind noch nicht so kaputt. Sie sind klug.“
„Ja, ich habe das Potenzial.“ Die Augen sprechen eine deutliche Sprache: Drogen. Und er wendet sich zum Gehen. Ich spreche ihn noch einmal an: „Sie können das. Und was sie mir über den Herrn im Himmel gesagt haben, danke. Das ist ja für alle Menschen.“
Analogie zur Kirche
Was ich daran über Kirche gelernt habe: Kirche benimmt sich genauso. Sie ist gerade im Abstieg begriffen. Sie ist abhängig von Geld und Macht. Sie geht auf Menschen zu und fragt nach Geld. Mit geschmierten Brötchen kann sie im Großen und Ganzen nicht viel anfangen.
Kirche betrachtet ihren Abstieg vielfach noch als vorübergehend. „Ich bin leider zurzeit obdachlos“ ist auch nicht weniger unwahr als „wir erleben zurzeit einen tiefen Strukturwandel“.
Für Geber:innen hat die Kirche Frommes und Kluges zu sagen. Für sie selbst scheint das Gesagte oft nicht zu gelten. Sie steigt nicht darauf ein. Wenn es eng wird, wenn es um gründliche Veränderung geht, geht sie höflich weiter oder zur Tagesordnung über. Sie hört nicht richtig zu und meint oft genug, die Antworten zu kennen. Und wenn ich in die kalte Kirche in meinem Stadtteil gucke, da ist die versprochene Toskana auch ziemlich weit weg.
Was zu tun ist – etwas zu Lassen
Was zu tun ist, ist etwas zu lassen. Die Abhängigkeit vom Geld, die Abhängigkeit von der Macht: „Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann. Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir Ihn verstanden – anzuvertrauen.“ So lauten die Schritte zwei und drei des berühmten Zwölf-Schritte-Programms der Anonymen Alkoholiker.
„Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.“ Schritt sieben, ist so fromm wie simpel. Wie alle Süchtigen kann Kirche sich nur von außen, von Gott helfen lassen. Wie alle Süchtigen muss sie ganz loslassen, damit neues Leben überhaupt wieder möglich wird. Und vielleicht muss sie erst ganz unten landen, damit es ihr gelingt, sich von Gott aufhelfen zu lassen. Es lohnt sich, die Zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker einmal durch die Brille der sterbenden Kirche zu lesen. Zum Beispiel Schritt zwölf: „Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft … weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten.“