Eine wissenschaftliche Handreichung zu den Erprobungsräumen
Die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung aus dem Herbst 2023 hatte offensichtlich gemacht, was die meisten ohnehin schon ahnten. Um die Kirche in Deutschland ist es wirklich schlecht bestellt. Und es ist nicht nur ein katholisches Problem. Auch der evangelischen Kirche, ja selbst den Freikirchen „laufen die Mitglieder weg“. Doch lange hat man diese dramatische Entwicklung hinter Floskeln, Hoffnungen oder Resignation versteckt. Dabei ist das doch die vielleicht drängendste Herausforderung vor der Kirche je stand. Welchen Raum kann, soll oder muss Kirche einnehmen, um (erneut) relevant zu werden, relevant zu sein und relevant zu bleiben. Was erhoffen sich die Menschen von Kirche – oder gibt es da gar keine Hoffnung mehr?
Neue Räume und Formen von Kirche und Spiritualität
Die Erprobungsräume oder Innovationsräume, die deutschlandweit in den Landeskirchen und Bistümern gestartet wurden, sollen dazu beitragen, Antworten auf diese Fragen, Lösungen für diese Herausforderungen zu finden. Sie sollen das schaffen, was Kirche schon lange nicht mehr bewerkstelligen konnte: Sich auf den Weg machen, neue Räume finden, in denen sich neues gemeindliches Leben entwickeln kann – gemeinsam mit Menschen, die bisher wenig positive Erfahrung mit Kirche gemacht haben und angepasst auf ihre jeweilige Lebenswelt (sei es der Sozialraum, eine Zielgruppe, eine Lebenslage oder auch allgemein der digitale Raum). Die Pioniere, die sich dort auf den Weg machen, gehen mit einer hörenden Haltung und vielen offenen Fragen raus, ins Unbekannte und schauen: Was prägt die Menschen in dieser Lebenswelt und wie können wir da neue Glaubensräume eröffnen? Was erleichtert den Menschen heute in einer so hoch individualisierten und leistungsorientierten Gesellschaft den Zugang zu christlicher Spiritualität – und was erschwert es ihnen? Wie muss Glaube und Kirche neu gedacht und formuliert werden, damit Menschen in ihrem jeweiligen Kontext angesprochen, abgeholt und eingebunden werden?
Viel Spannendes, Innovatives, Neues ist aus den Initiativen, aus den Erprobungsräumen, aus den Fresh X erwachsen. Doch inwiefern ist das Kirche? Darf das Kirche sein? Welchen Platz und welchen Raum geben Kirchen den neuen Ausdrucksformen? Was machen wir mit den Projekten, die funktionieren? Wie können sie nachhaltig vom Projektstatus zu einer „echten“ Form von Kirche werden? Und in welchem Bezug stehen diese Innovationen und Projekte zu den anderen Veränderungsprozessen, die parallel dazu in Kirche laufen: Regiolokale Kirchenentwicklung, Fusionen oder gar der Transformation des Gemeindebegriffs und des gemeindlichen Lebens?
Begleitforschung zur Erprobung
Von Anfang 2021 bis Ende 2023 erforschte ein Team von Wissenschaftler*innen der CVJM-Hochschule und der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe die Erprobungsräume der Evangelischen Kirche im Rheinland. Deren Ergebnisse wurden in einer Handreichung unter dem Titel „Was, wenn es funktioniert?“ veröffentlicht. Während des Untersuchungszeitraums waren für das Forschungsteam drei Fragen ausschlaggebend:
• Wie ereignet sich Kirche im Kontext der Erprobungsräume?
• Wie gelingen Prozesse der Erneuerung?
• Wie entstehen Ökosysteme der Zusammenarbeit, in denen Traditions- und Innovationsräume produktiv für einander werden können?
Die Begleitforschung zeigte, dass sich viele der Erprobungsräume der Kirche im Rheinland als Fresh X sehen und als ein Teil der Evangelischen Kirche im Rheinland. Vergleichsweise wenige aber als eigene Gemeinde. Das könnte unter anderem an der Organisation der einzelnen Projekte liegen. Die meisten beschreiben sich als selbstorganisierte Teams, in der die Entscheidungsgewalt je nach Betroffenheit oder Kompetenz wechselt; auch partizipative Entscheidungsstrukturen spielen eine große Rolle. Kirchliche Strukturen sucht man hier meist vergebens.
Während sich das aktuelle Zugehörigkeitssystem der Kirche ausschließlich auf formale Kriterien wie Taufe und Kirchenmitgliedschaft gründet, obwohl sie erleben, dass Gemeinschaft nur unter denen entsteht, die sich beteiligen und mitgestalten, leben Erprobungsräume, Innovationsprojekte, Fresh X und Initiativen viel grundlegender davon, dass andere sich (ehrenamtlich und freiwillig) einbringen und mitgestalten. Erst durch den gemeinschaftlichen Beitrag nimmt die Arbeit die ihr jeweilig spezifische und kontextualisierte Gestalt an. Während Kirche immer wieder versucht, durch Angebote, die einige wenige in der Kirche für andere anbieten, Gemeinschaft zu stiften und Menschen zu erreichen, setzen die innovativen Formen von Kirche direkt bei den Menschen und deren Bedürfnissen an. Was wollen sie? Wonach sehnen sie sich? Was wünschen sie sich? Und wie können wir das gemeinsam (nicht für sie, sondern miteinander) erreichen? Gedankliche Schranken oder strukturelle Vorgaben hindern da nicht so sehr den Entstehungs- und Erprobungsprozess wie in der verfassten Kirche.
Kirche braucht Innovation – Innovation braucht Kirche
Dennoch ist den Erprobungsräumen und allen innovativen Projekten und Initiativen gleich: Sie brauchen die verfasste Kirche. Sie brauchen Kirche als Ermöglicherin und als Ermutigerin. In dem Forschungsbericht fassten die Wissenschaftler*innen das folgendermaßen zusammen: „Die deutliche Mehrheit der Erprobenden hat eine starke kirchliche Identität, sie wollen nicht irgendetwas, sondern Kirche gestalten. Anders, aber als Kirche erkennbar und als Teil des kirchlichen Systems.“ Die Kirchen hingegen seien darauf immer noch nicht ausreichend vorbereitet. Nachhaltige Verstetigung von Formaten und Angeboten würden fehlen, ebenso erleben viele der Pionier*innen, Gegenwind aus den Kirchengemeinden und Kirchenkreisen, da ihre Formen des spirituellen Lebens oder der gottesdienstlichen Formen nicht denen entsprechen, die Kirche kennzeichnen (sollen) und weil mancherorts der Veränderungswille bislang nur auf dem Papier oder in der Theorie zu existieren scheint.
Vielerorts würden zwar Finanzen und Personal für einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung gestellt, jedoch fehlten die Ressourcen für eine Begleitung (bspw. in Form eines Coachings oder Mentorings), Vernetzung der Aufbrüche und der Pionier*innen, Aus- und Weiterbildungsangebote für die Haupt- und Ehrenamtlichen in den neuen Formaten von Kirche, eine Anerkennung der Arbeit und der neuen Formen.
Eine Lösung sehen die Forscher*innen in dem Konzept der Mixed Ecology. Diesem Prinzip aus England folgend, wären verfasste Kirchen, Parochialgemeinden, regiolokale Kirchenzusammenschlüsse gleichwertig mit Initiativen und den vielfältigen neuen Ausdrucksformen von Kirche. Coexistent. Gleichberechtigt. Gleichwertig. An einigen Orten, in einigen Kirchenkreisen wird dies auch bereits gelebt, doch vielerorts ist die Verteilungsfrage der Ressourcen und die Frage nach den Zutrittsbedingungen und Zugangsmöglichkeiten noch ungeklärt oder gar ein Konfliktthema. Doch wie lange wird man sich diesen Streit noch leisten können?
Was macht Kirche mit den Erkenntnissen?
Sowohl die Zwischenberichte von 2022 und 2023 als auch das Forschungsfazit (das im Übrigen super schön und luftig gestaltet ist) können auf der Website der Erprobungsräume als PDF eingesehen und heruntergeladen werden. Auf der Synode im Januar 2024 wurden die Forschungsergebnisse bereits vorgestellt und diskutiert. Sind die Ergebnisse überraschend oder gar neu? Für viele sicherlich nicht. Aber sie zeigen natürlich noch einmal konkret auf, was schon gut und erfolgreich läuft, wo Sand im Systemgetriebe steckt, wo Handlungsbedarfe bestehen und wie diese aussehen könnten. Bewusst gibt dieser Forschungsbericht keine Handlungsempfehlungen, sondern zeigt relativ nüchtern auf, wie die aktuelle Ausgangslage ist. Mögliche Umsetzungsmaßnahmen werden derzeit von den Fachpersonen der Kirchenentwicklung in der Evangelischen Kirche im Rheinland und dem Team der Erprobungsräume in der EKiR geprüft.
Der Ball liegt also mal wieder im Feld der Kirche. Wie sieht ihr nächster Spielzug aus?