Unternehmerisches Kirche sein der Diakonie
Die Agaplesion gAG ist einer der größten Arbeitgeber Deutschlands im Gesundheitsbereich. Mit über 100 Einrichtungen, 22.000 Mitarbeitenden und einem Umsatz vom 1,4 Milliarden Euro pro Jahr kann man mit Fug und Recht behaupten, dass sie ökonomische Stärke bewiesen haben. Als christlicher Konzern mit diakonischem Auftrag zählen sie aber auch zu Kirche. In einem kurzen Impulsreferat führte Prof. Dr. Holger Böckel, Theologischer Leiter der Agaplesion gAG, auf der Mitgliederversammlung des Fresh X Vereins am 01.03.2023 in Kassel in das unternehmerische und kirchliche Handeln des Unternehmens ein.
Seine These und die daraus resultierende Frage: Als großer Gesundheitskonzern sind sie längst unternehmerisch tätig – doch wie können sie bei allen ökonomischen Zwängen auch Kirche sein? Geld oder Geist? Oder geht auch beides?
Unternehmerische Diakonie
Als die ersten diakonischen Einrichtungen noch im deutschen Kaiserreich gegründet wurden, hatten sie einen pionierhaften Charakter. Waren Vor-Vor-Vorläufer heutiger Start-ups. Experimentell. Neu. Unkonventionell. Mit klarem Auftrag und einer großen Leidenschaft der Pionier:innen. Diakonische Tätigkeitsfelder waren für Frauen damals nahezu die einzige Möglichkeit, zu arbeiten. Ihr christlicher Glaube war ihre Motivation. Das christliche Menschenbild ihre Norm. Und die Kommunikation des Evangeliums ihr Deutungshorizont. Diakonische Einrichtungen als sichtbares Symbol tätiger Nächstenliebe – ermöglicht durch die diakonische Dienstgemeinschaft und die Arbeitskraft der Diakonissen. So entwickelten sich nicht zuletzt durch die Tatkraft und das Engagement von Frauen aus den Start-ups bis heute florierende Unternehmen bzw. Konzerne – in denen zugegebenermaßen nur noch wenige Diakonissen tätig sind. Im Zuge der Trennung von Religion und Staat kam es zu einer Säkularisierung der diakonischen Einrichtungen. Immer weniger Mitarbeiter sind heutzutage mit dem christlichen Glauben verbunden – eine Bedingung für ein Anstellungsverhältnis ist das Bekenntnis zum Evangelium schon länger nicht mehr. Dennoch verstehen sich diakonisch arbeitende Anbieter nach wie vor als Kirche auf dem Gesundheits- und Sozial-Markt, auch wenn die berechtigte Frage gestellt werden muss, inwiefern eine Blinddarm-OP, Kinderbetreuung oder die Pflege von älteren sowie körperlich oder kognitiv eingeschränkten Menschen etwas mit Gott und Glauben zu tun haben muss oder sollte.
Prof. Dr. Holger Böckel sieht genau darin – nicht nur seines Amtes wegen – jedoch die große Chance, die die Diakonie oder der Agaplesion-Konzern haben. In einem säkularisierten ökonomischen Umfeld können sie die angebotenen Dienstleistungen nutzen, um das Evangelium zu verkünden. Dank der Sensibilität für den Kontext, oft ja die „Abbruchkante des Lebens“ vermögen sie es wie kaum jemand anderer existenzielle Fragen aufzugreifen und sinnstiftend zu beantworten. Dabei bleibt das diakonische Handeln als Dienst das Zeichen für die Zuwendung Gottes in der Welt. Dadurch entäußert sich Kirche inkarnatorisch und unerwartet am ungewohnten (säkularen) Ort. Böckel sieht die Diakonie bzw. deren Dienst als Kirche im Unternehmen, wenn sie den Dienst als Ermöglichung im Sozialraum und eine frische Form von Gemeinschaft ansieht. An vielen Orten und Stellen geschieht dies bereits durch die hohe emotionale Beteiligung der Mitarbeitenden. Der Dienst in Krankenhäusern und anderen sozialen Einrichtungen ist dabei sowohl eine Arbeit im Sozialraum als auch der Sozialraum selbst.
Fresh X-DNA in der Diakonie
Die fresh expressions of church-Bewegung hat vier Merkmale, die für jede Initiative oder Form von frischer Kirche unter diesem Titel konstituierend sind: kontextuell, gemeinschaftsbildend, missional und lebensverändernd. Genau diese Merkmale finden sich auch in diakonischen Einrichtungen, auch wenn sie häufig anders genannt werden:
Missional steht dann für Inklusivität, kontextuell für Fluidität, lebensverändernd bedeutet dann Intensität und gemeinschaftsbildend wird deutlich in der Konnektivität.
Genau diese Zusammenhänge werden aktuell an vielen Orten in Diakonie & Co. erforscht, mit Leben gefüllt und erprobt. Auch verschiedene Formen von Gemeinschaft sind in den diakonischen Unternehmen denkbar: Gemeinde mit flexiblen Strukturen, Einrichtungsgemeinden oder gleich diakonische Gemeinschaften. Wie das konkret vor Ort umgesetzt wird, muss natürlich jede Einrichtung, jedes Krankenhaus, jede Wohngruppe, jede Pflegeeinrichtung, … für sich herausfinden. Möglichkeiten könnten Gesprächsangebote wie z.B. ein Erzähl-Café sein, gemeinsam Feste und kulturelle Events feiern, spirituelle Begleitung, z.B. in Form von Seelsorge, Besuchsdienste oder auch klassische Andachten und Gottesdienste in ungewohntem Rahmen sein.
Gerade den Seelsorger:innen kommt dabei eine besondere Rolle zu, ist Prof. Dr. Holger Böckel überzeugt. „Als Pionier:innen in diesem Feld haben sie eine Doppelfunktion: Sie sind über die Seelsorge in die funktionale diakonische Organisation eingebunden und zugleich Kristallisationspunkt eines internen kirchlich-christlichen Start-ups.“ Aufgrund des Abbaus von Pfarrstellen, der voranschreitenden Säkularisierung und der damit einhergehenden geringen Differenzierung von Diakonie und anderen Trägern gehört zum Arbeitsauftrag der integrativen Seelsorger:innen, wie Böckel sie nennt, die besondere Ausgestaltung der christlich-diakonischen Seelsorge und Gemeinschaft. Sie erhalten ihre Ausbildung an theologischen Hochschulen (es besteht zum Beispiel eine enge Zusammenarbeit mit der EH Freiburg, der CVJM Hochschule sowie dem TSB). Teilweise besteht auch eine Kooperation, Verbindung oder enge Zusammenarbeit zur jeweiligen Landeskirche. Doch wie genau sie ihren Auftrag ausfüllen, wie sie ihn ausgestalten und wie sie selbst dabei begleitet werden, muss sich noch zeigen. Daran arbeitet Böckel mit anderen. Ideen und einzelne Konkretionen gibt es, aber wie so oft bei frischen Formen von Kirche, muss, darf, kann und soll experimentiert, geforscht und erprobt werden.