Vor einer Weile lag ich im Krankenhaus. Es stellte sich heraus, dass sich nichts herausstellte. Aber es gab einen Verdacht, der mich in die Notaufnahme und von dort weiter auf die Beobachtungsstation führte. Dabei fühlte ich mich doch gut. Und so lag ich dort, angeschlossen an das Kontrollgerät und musste abwarten, während um mich herum die wirklich schweren Fälle kamen und gingen.
Mitten in der Nacht wurde ein älterer Herr auf den freien Platz neben mir geschoben. Sein Puls war sehr schwach. Mehrmals stürzte Pflegepersonal in den Raum, weil sie eine Alarmmeldung bekommen hatten. Am nächsten Morgen kam eine Ärztin, die den Herrn behutsam fragte, ob er reanimiert werden wolle. Er hatte es ganz klar: Nein. Das brauchen sie nicht.
Rhythmen und Systeme
Der Tag verging. Ein Krankenhaustag hat seine Rhythmen. Visite, Gespräche, Mahlzeiten. Die Patienten bekommen alles voneinander mit. So setzt sich langsam ein Bild zusammen: Der freundliche Herr hatte einen Port für die Palliativernährung. Körperfunktionen sonst normal. Später telefonierte er. Holger musste das Auto abholen, es war fertig. Im Betrieb (Sanitärinstallation) waren Anweisungen zu geben. Die Frau wollte erst spazieren gehen und dann zum Besuchen kommen. In allem steckte Leben.
Dann kam wieder ein Arzt. Er sprach mit tastender Stimme. Er habe mit Dr. Soundso gesprochen. Dieser habe gesagt, dass sie jetzt wieder mit den Spritzen anfangen sollten. Und ich dachte: Oh nein, der Arme! Es war mit Händen zu greifen, dass diese Nachricht nichts Gutes bedeutete. Und dann drehte der freundliche Herr neben mir einfach die Augen nach hinten. Das war zu viel. Er machte einfach nicht mehr mit.
Ausstieg aus dem System
Man kann es in diesen Tagen im November 2021 nicht deutlich genug sagen: Die Pflegenden und die Ärzt:innen sind wirklich Held:innen. Auch des Alltags und der Fürsorge. Ich habe sehr liebevolle Menschen erlebt, die trotz Stress nicht die Gefühle der Patient:innen vergessen haben. Im Gegenteil. Aber ein Krankenhaus ist auch ein System. Und es ist Teil eines größeren Gesundheitssystems. Und Systeme leben davon, dass die Beteiligten funktionieren. Der freundliche Herr neben mir hat das System durchbrochen.
Ariadne von Schirach schrieb dazu:
„… dass die größte Gefahr für ein Menschenleben nicht das Sterben ist, sondern das Funktionieren. Nicht den Tod soll man fürchten, sondern nicht selbst gelebt zu haben. Doch wie leben?“
Das System Kirche
Und so komme ich zu dem, was wir Kirche nennen. Die Weihnachtsgeschichten stehen demnächst an. Gott kommt als Kind zur Welt. Als Säugling. Gott selbst funktioniert nicht! Gott liegt einfach da, brabbelt. Er schreit, wenn er Hunger hat oder die Windeln voll sind. Er kann quasi noch nichts. Später, so berichtet die Bibel, wird seine Familie noch einmal versuchen, Jesus zurück in ihre Systematik zu holen. Jesus funktioniert nicht.
Wie geht Leben? Wie geht Kirche, die nicht funktioniert? Diese Frage stellt sich mir drängender, als ich sie jemals gehört habe. Die Pandemieexplosion dieser Tage stellt diese Frage noch deutlicher heraus. Und ich suche immer noch nach einer Antwort. Ich würde mich über Antworten freuen; meine Kontaktdaten stehen auf dieser Seite unten.