„Macht es dich glücklich, darf es bleiben.“ Dieser einfache Satz von der Ordnungsexpertin Mari Kondo, mit dem bereits Hunderttausende ihre Kleiderschränke und Schubladen ausgemistet haben, ließe sich auch auf andere Lebenswelten übertragen. Die aktuelle Jahreslosung aus 1. Thessalonicher 5,21 ist dabei ein Beispiel: Stell alles auf den Prüfstand. Sei kritisch. Hol alles aus dem Schrank raus, guck es dir genau an und behalte das Schöne, das Gute, das, was glücklich macht.
Freiraum fürs Aufhören
Auch in Organisationen und Unternehmen wird regelmäßig alles auf den Prüfstand gestellt. Getätigte Investitionen oder Strukturmaßnahmen werden unter die Lupe genommen, ob sie den erhofften Effekt erzielt haben oder nicht. Produkte werden beständig weiterentwickelt oder gänzlich Neues wird erschaffen und auf den Markt geworfen. Immer höher, schneller, weiter, besser; noch besser, noch weiter, noch schneller, noch höher. Dass das nicht unendlich so weitergeht, ist klar. Trotzdem gehören das Schaffen von Neuem, Innovation und die Veränderung von Bestehendem, Transformation, dazu. Und während man jahrelang den Fokus darauf legte, zu innovieren und zu transformieren, um den Regeln der freien Marktwirtschaft zu folgen, mischen sich seit einigen Jahren Stimmen dazu, die fragen und fordern, dass das doch auch anders gehen muss. Dass man nicht einfach immer nur Neues schaffen kann, sondern dass man doch auch bewusst Raum schaffen müsse für all das Neue. So wie im Herbst die Bäume sich ihrer Blätter entledigen, um Platz zu schaffen für Knospen und neue Blätter im Frühling, so müsse es doch auch in der Wirtschaft Zeiten des Ausmistens, Freiräumens, Beendens geben. Zeiten für Exnovation.
Erfolgsfaktoren für Innovation
In ihrem Buch „Exnovation und Innovation. Synergie von Ende und Anfang in Veränderungen“ geben Dr. Sandra Bils und Dr. Gudrun L. Töpfer zu Beginn umfassende Antworten auf die Fragen, die mit Exnovationen einhergehen: Wieso braucht es bewusste Exnovation überhaupt? Reicht es nicht, einfach Neues zu schaffen, Überholtes verschwindet doch dann ganz von allein. Oder: Warum tun wir uns so schwer damit, Dinge zu beenden, selbst wenn wir wissen, dass wir ohne sie besser dran sind? Oder: Wie beginnt Exnovation, wie zeigt sie sich?
Sie zeigen die Veränderungslogiken und deren Steuerungsprozesse, bringen Beispiele von gelungener und misslungener Exnovation und benennen die Risiken, die mit Exnovation einhergehen, wie die vermeintlich fehlende Zukunftsorientierung oder das Festhalten an Machtstrukturen. Und sie erklären, wie Exnovation in bestehenden Systemen geschieht – beispielsweise durch eine erste Phase der Nischenbildung, in der Innovationen in kleinerem Umfang erprobt werden, ohne dass sie Einfluss auf das bestehende System haben, in der zweiten Phase etablieren und breiten sich erfolgreich erprobte Innovationen aus, nicht erfolgreiche verschwinden wieder. Die Erfolgreichen ermöglichen dann eine Phase der Destabilisierung, weil sie in ernsthafte Konkurrenz mit etablierten Systemen und Strukturen treten und so Veränderungen (zunächst im Kleinen) hervorrufen. In der vierten Phase, der sogenannten Regimesubstitution, gelingt eine umfassende Akzeptanz und Anerkennung der Alternativen und es kann zu grundlegenden Änderungen und Anpassungen kommen. (Vgl. Kapitel 2.3.5, S. 42-48) Neues, dass sich zunächst in Nischen bildet und dort erprobt wird, wird, damit es erfolgreich und nachhaltig sein kann, früher oder später in ernsthafte Konkurrenz zu Bestehendem treten und es verdrängen.
Anfang und Ende
Einer jeden Neuerung sollte also auch bereits zumindest eine Ahnung vom Beenden inhärent sein; Innovation scheint viel weniger wirkmächtig zu sein, wenn nicht die Exnovation direkt mitgedacht wird: „Wir halten fest, dass es Veränderungen leichter haben, wenn nicht nur die Innovationen vorangetrieben, erforscht, begründet und zugänglich gemacht werden. Der Effekt scheint um ein Vielfaches höher zu sein, wenn gleichzeitig am Beenden jener Gegebenheiten gearbeitet wird, die die aktuelle Lösung fördern, stützen und schützen, was für eine Destabilisierung sorgt.“ (S. 58)
Wer bei den letzten Absätzen neben Raider bzw. Twix auch die Kirche im Kopf hatte, darf sich jetzt bestätigt fühlen. Ein komplettes Kapitel ist in dem Buch nämlich den Exnovationen im kirchlichen Kontext gewidmet. Oder dem Versuch zu Exnovation. Drei Beispiele verschiedener Großkirchen sollen das verdeutlichen.
Exnovation in der Evangelischen Kirche im Rheinland
Die Evangelische Kirche im Rheinland kommt mit einem Positionspapier von 2021 zu Wort: „Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. […] Wir sind gut im Diskutieren, aber schlecht im Verändern. […] Unser Problem ist, dass wir in alten Strukturen verhaftet bleiben und uns nicht konsequent auf die grundlegend veränderten Voraussetzungen einstellen.“ (S. 117)
Als erfreulich heben die Autorinnen hervor, dass die EKiR bereits sehr früh Strukturen und Ressourcen zur Verfügung gestellt hat, um Innovationen zu erproben. Nischen (s.o.) konnten sich etablieren, einige auch im System. Die Erprobungsräume wurden wissenschaftlich begleitet und evaluiert, man richtete eine eigene Stabsstelle ein, in dem Wissen, dass die Innovationen einher gehen müssen mit Exnovationen und dass dies eine strategische, eine organisationsentwicklerische Aufgabe ist. Es fanden Kurse, Workshops und Tagungen statt. Man erarbeitete Positions- und Strategiepapiere, Tools und Handlungsempfehlungen. Exnovatives Problembewusstsein und der Wille zur Veränderung ist da, doch es hapert an der konkreten Umsetzung; „eine breite Diffusion ins Regelsystem und damit einhergehende Anpassungen und Exnovation“ stehen noch aus. (vgl. S. 121)
Exnovation in der Diözese Graz-Seckau
Auch der Blick nach Österreich zeigt: Hier wurde bereits viel getan und gedacht, aber mit der Umsetzung, dem konkreten Vollzug tut man sich schwer. Die Diözese Graz-Seckau fragte sich zum Beispiel bereits 2017, „Wozu bist du da, Katholische Kirche in der Steiermark?“ und startete davon ausgehend einen langen Kirchenentwicklungsprozess, in dem man sich tatsächlich von Anfang an bewusst machte, dass in diesem Prozess bis 2035 auch das „Verabschieden von Liebgewordenem, weil es nicht (mehr) dem Auftrag der Kirche und der konkreten Situation entspricht“ Bestandteil sein wird. (Tamara Strohmayer, Prozessbereichsleiterin für Innovation und Entwicklung, S. 122) Um dem gerecht zu werden, begann man mit einem zweigleisigen Prozess: Es wurde herausgearbeitet wo welche Innovationen anstehen, möglich und gewünscht sind und welche Investitionen der Zukunft 2035 entsprechen, gleichzeitig aber auch benannt, was „inhaltlich und finanziell nachgereiht behandelt oder sogar ganz beendet werden soll.“ (S. 123)
Die Diözese Graz-Seckau in der Steiermark ist sich ihrer Problem- und Handlungsfelder sehr bewusst und arbeitet engagiert und zielstrebig an Wegen, wie sie Innovationen und Exnovationen gleichermaßen in ihrem System verankern können. Die Autorinnen machen aber auch deutlich, dass es bisher nur wenige, zaghafte Exnovationen gegeben habe, die sich noch nicht auf das Gesamtsystem ausgewirkt haben. „Sollten nun jedoch keine praktischen Entscheidungen folgen und damit exnovierendes Handeln in die Praxis kommen, werden die mutigen Schwerpunktsetzungen in den Grundsatzpapieren lediglich ein ‚zahnloser Tiger‘ und es bestünde die Gefahr, dass die Exnovationsproblematisierungen versanden.“ (S. 127)
Exnovation bei der evangelisch-reformierten Landeskirche Zürich
Bei der evangelisch-reformierten Landeskirche im Kanton Zürich in der Schweiz konstatierten Bils und Töpfer, dass Innovationen gewollt und gefördert werden – unter der Einbeziehung der Exnovation. Das Innovationskonzept sieht bereits in seinem Ursprung vor, dass Räume für innovative Erprobungen geschaffen werden müssen, bei gleichzeitiger Überprüfung des Bestehenden, was davon beendet oder weggelassen werden kann. Die Autorinnen bringen sogleich ein Beispiel einer Kirchengemeinde, bei der sowohl die Einübung einer exnovierenden Grundhaltung als auch einzelne konkrete Exnovationen erfolgreich umgesetzt werden konnten: In der Kirchgemeinde Illnau-Effretikon in der Schweiz wurden beispielsweise bestimmte Angebote wie ein Skilager oder spezielle Gottesdienstformate gestrichen, durch die Zusammenlegung bestimmter Formate oder bestehender Zielgruppenangebote konnten Synergien geschaffen werden, durch die Einbindung von vermehrt Ehrenamtlichen, konnten Hauptamtlichen entlastet werden und man überprüfte Neuerungen erst einmal, anstatt neue Formate direkt zu verstetigen. (vgl. S. 133) Doch auch hier zeigte sich: Exnovation, bloß weil einmal beschlossen, ist noch lange kein Selbstläufer und erfordert viel Geduld, aufmerksames Zuhören, aufrichtige Begleitung und Aufarbeitung sowie eine transparente Kommunikation. Und obwohl die Schweizer in dem Beispiel des Buches sehr gut wegzukommen scheinen, auch bei ihnen stellten die Autorinnen fest: „Auf landeskirchlicher Ebene stehen vergleichbare Exnovationsentscheidungen und deren konkrete Umsetzung noch weitgehend aus …“ (S. 135)
Grundlagenwerk für nachhaltigen Wandel
Ja, es fehlen Vorbilder, wie die Autorinnen zu Beginn des Buches festhielten. Genau das macht es ja so schwer, eine Exnovations-Haltung einzuüben. Gepaart mit dem Gefühl des Versagens, wenn etwas nicht funktioniert oder nicht mehr trägt und deswegen beendet wird. Aus diesem Grund ist es so wichtig, sich immer wieder und immer mehr mit dem Thema Exnovation auseinanderzusetzen und nicht leichtfertig zu sagen: Kirche hat gute Rituale für die Abschiede im Leben. Ja, das stimmt zwar, aber es ist das eine, andere in Abschieden zu begleiten und heilsame Worte zu verteilen und etwas völlig anderes, selbst Abschied zu nehmen und Liebgewonnenes zu Grabe zu tragen. Eine Möglichkeit, sich dem Thema zu nähern, ist sicherlich das Werk von Sandra Bils und Gudrun L. Töpfer, das weit über den kirchlichen Tellerrand hinausblickt. Die umfassende Grundlagenanalyse, die Hinführung und der Forschungsstand von Exnovation werden genauso thematisiert, wie konkrete Beispiele. Interviews mit Expert:innen und ein eigenes Methodenkapitel ermöglichen den Übertrag von der Theorie in die Praxis. Hoch fundiert und leicht zu lesen, möchte man bei so vielen Sätzen: „Ach so!“ und „Ja, genau!“ rufen, dass man direkt Lust verspürt, das Gelesene anzuwenden. Und wenn schon nicht bei Kirche (oder im Unternehmen), dann wenigstens im eigenen Kleiderschrank. Auf dass diese Änderung in der Schlafzimmernische auch Auswirkungen auf das Gesamtsystem Haushaltsordnung hat.
Sandra Bils und Gudrun L. Töpfer
„Exnovation und Innovation. Synergie von Ende und Anfang in Veränderungen“
Schäffer & Poeschel