inspiriert

Kirchengeschichte selbst schreiben

13. November

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde; zunächst herrschte auf der Erde Chaos – sie war „wüst und leer“ – dann wurde Gott kreativ. Er setzte die Geschichte der Menschheit in Gang und gab uns den Auftrag, ebenfalls Geschichte zu gestalten zum Wohl aller. Irgendwann kam die Kirche, schrieb Geschichte und muss sich heute auf eine neue Situation von „wüst und leer“ einstellen. Wie können Menschen, die sich in kirchlichen Leitungsgremien engagieren, kreativ mit solch einer chaotischen Situation umgehen? Welche Form von Leitung braucht es und welche Navigationshilfen durch den Dschungel der Herausforderungen?

Navigationshilfen

Vielerorts wird derzeit darüber gesprochen, dass Kirche sich erneuern muss. Statt sich zu recyclen. Ich folge eher der Weisheit: „Alles hat seine Zeit!“ Erneuern hat seine Zeit, Recycling hat seine Zeit und Transformation hat seine Zeit. Je nach Art der Herausforderung sollte Leitung sich jeweils wieder neu die Frage stellen, was gerade dran ist, um die Geschichte der Kirche weiterzuschreiben.

Erneuerung und Recycling sind essenzielle Prozesse sowohl in der Natur als auch in der Kirchengeschichte. Recycling ist ein Mechanismus, durch den Nährstoffe und Energie in Ökosystemen zirkulieren. Wenn etwas nicht mehr lebendig ist, wird das organische Material durch Organismen wie Pilze und Bakterien langsam zersetzt und Nährstoffe gelangen wieder in den Boden und unterstützen neues Leben. Dieser Zyklus des Recyclings sichert das Überleben und die Gesundheit der Schöpfung. Warum nicht auch in der kirchlichen Welt? So könnten zum Beispiel das Material oder andere verbliebene Ressourcen einer alten Kirche oder sterbenden Gemeinde benutzt werden, um Neues zu bauen, am gleichen oder einem geeigneteren Ort. „Wenn das Weizenkorn stirbt, bringt es viel Frucht!“ (Johannes 12,24)

Während Recycling die Wiederverwertung betont, geht es beim Erneuern, darum, dass das Wesentliche des Alten erhalten bleibt, aber ein neuer Mehrwert geschaffen wird. Eine alte Kirche, die nicht mehr genutzt wird, könnte entkernt und völlig neu eingerichtet werden, z.B. als Kletterhalle, Winterspielplatz, Kolumbarium oder Café mit Begegnungsstätte und Bibliothek oder alles in einem.

Was wäre hier die Aufgabe von Leitung, damit Menschen Kirchengeschichte neu schreiben können? Leitung muss nicht selbst innovativ sein, aber sie sollte mutig innovative Menschen und Gruppen, die etwas erneuern oder recyclen möchten, fördern, unterstützen und senden. Leitende Gremien würden damit die Selbstwirksamkeit unterstützen und das allgemeine Priestertum beleben. So könnten sich viele erneuerte Formen von Kirche ereignen.

Die MUT-Initiativen der Landeskirche in Bayern sind ein hervorragendes Beispiel dafür, wie das aussehen kann, unkonventionelle Ideen zu entwickeln, die die kirchliche Arbeit bereichern und neue Zielgruppen ansprechen. Das alles im Tandem von bestehenden Strukturen und neuen Startups. Es geht darum, nicht nur traditionelle Strukturen zu bewahren, sondern mutig voranzugehen und Raum für Neues zu schaffen.

Herausforderungen und Lernmomente

Erneuerungen in der kirchlichen Arbeit und Veränderungen lösen oft Widerstände aus. Wie schaffen wir es, die Balance zwischen Bewahrung und Erneuerung zu halten? Wie gehen wir mit Ängsten und Unsicherheiten um? Wie können wir aus Fehlern lernen, um gestärkt daraus hervorzugehen? Ein zentraler Aspekt im Erneuerungsprozess ist die Kommunikation und das Geschichtenteilen. Es ist entscheidend, Gemeindemitglieder frühzeitig einzubeziehen und Bedenken und Ideen ernst zu nehmen Transparenz ist von großer Bedeutung, ebenso Räume für Trauer, wenn etwas nicht mehr am Leben erhalten werden kann und das Schlusskapitel ansteht. Trauerbegleitung gehört zu den größten Kompetenzen der Kirche. Sie will gelebt werden.

In Römer 12,2 heißt es: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern lasst euch umgestalten (transformieren) durch die Erneuerung eures Bewußtseins.“

Dieser Vers ermutigt, sich von Gott erneuern zu lassen und nicht an überholten Strukturen festzuhalten. Es geht darum, offen zu sein für das Wirken des Heiligen Geistes und den Mut zu haben, neue Wege zu beschreiten. Diese Erneuerung des Geistes ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gemeinschaftliche Aufgabe, z.B. für ein Leitungsgremium.

In seinem Buch „Kirche am Ende“ schreibt Tilmann Haberer: „Trotz aller Reformbemühungen der letzten Jahrzehnte ist die Kirche, wie man sie bisher kannte, eine sterbende Institution. Sie ist am Ende und das ist eine Chance!“ Und damit komme ich zum Thema Kollaps, Chaos und Transformation.

Keine Angst vor Kollaps und Chaos

Der Zusammenhang zwischen Kollaps, Chaos und Transformation in gesellschaftlichen Systemen ist ein komplexer, dynamischer Prozess, der oft zyklisch verläuft und tiefgreifende Veränderungen bewirkt. Dies lässt sich auch auf kirchliche Systeme anwenden und so kann Neues in die Welt kommen! Ein Kollaps tritt auf, wenn bestehende Strukturen aufgrund von inneren oder äußeren Faktoren versagen. Der Kollaps bedeutet, dass bisherige Mechanismen und Regeln, die das System zusammengehalten haben, nicht mehr funktionieren. Ugo Bardi erklärt in seinem Buch „Der Seneca-Effekt“, dass ein Kollaps eine Eigenschaft und kein Defekt des Systems ist. „Es ist das Werkzeug, das vom Universum genutzt wird, um das Alte zu beseitigen und Platz für Neues zu schaffen.“ Es ist, als würde Raum für neue Geschichten geschaffen.

Nach einem Kollaps folgt oft eine Phase des Chaos. Es herrschen Unordnung und Unsicherheit. Alte Strukturen sind zerbrochen und neue haben sich noch nicht etabliert. Diese Zeit ist geprägt von Konflikten. Es existieren keine klaren Ursache-Wirkungs-Beziehungen und sofortiges Handeln ist erforderlich. Chaos kann jedoch auch als kreatives Potenzial gesehen werden, da es Raum für neue Ideen und Lösungen schafft. Aus dem Chaos kann Transformation entstehen. Die Corona-Pandemie hat Kirchengemeinden vor große Herausforderungen gestellt. Plötzlich waren traditionelle Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen nicht mehr möglich, und es galt, schnell alternative Wege zu finden, um den Kontakt zu den Gemeindemitgliedern aufrechtzuerhalten. So entstanden nach einer Phase des Chaos digitale Transformationen. Leider sind viele Gemeinden in alte Routinen zurückgekehrt.

Transformation ist der Prozess, durch den ein neues Gleichgewicht und neue Strukturen gebildet werden. In dieser Phase entwickeln sich innovative Lösungen, die ein System erneuern und stabilisieren. Um sie zu erkennen, braucht es eine neugierige Aufmerksamkeit. Neue Werte und Normen entstehen, die besser auf die Herausforderungen der Zeit reagieren können. Obwohl der Kollaps und das daraus resultierende Chaos oft negativ wahrgenommen werden, sind sie notwendige Phasen, die Raum für Transformation und Erneuerung schaffen. Dieser Prozess ermöglicht es, sich an veränderte Bedingungen anzupassen und langfristig zu überleben. Welche Form von Leitung braucht eine solche Phase, um Kirchengeschichte auf den krummen chaotischen Linien weiterzuschreiben und zu gestalten?

Chaos-Piloten, die Geschichte schreiben

Den Begriff „Chaos-Piloten“ habe ich von Rainer Koch übernommen. Ich finde ihn genial. Leitung, in chaotischen Zeiten, braucht eine bestimmte Haltung und muss das Aufhören lernen. Aufhören, einen bestimmten Kurs verfolgen zu wollen oder eine Strategie. Ebenso ist Changemanagement nicht geeignet, um Lösungen für komplexe Herausforderungen zu finden.

Es geht auch um ein „Hören auf“, sowohl aufeinander, auf die Situation und auf Gott. Ganz praktisch kann man in einer Sitzung z.B. mal 30 Sekunden Stille zwischen Tagesordnungspunkten einplanen zum Wahrnehmen. Außerdem ist es für Leitungsgremien von Vorteil, wenn sie es lernen, Entscheidungs- und Transformationsprozesse co-kreativ zu gestalten, bzw. sich darin von Facilitator*innen begleiten zu lassen. „Der Begriff »Facilitating« steht für »Erleichtern, Leichtigkeit«. Eine sich weltweit verbreitende Führungsphilosophie, die auf direktive Elemente verzichtet zugunsten von Partizipation, Selbststeuerung und Organisations-Lernen. Facilitation ermöglicht Co-Kreation als einen schöpferischen Prozess, bei dem Bedürfnisse, Erfahrungen und Wissen von Beteiligten zusammengeführt werden und im Rahmen einer Miteinander-Kultur Geschichte geschrieben wird. Die Methoden und Haltungen haben eine große Nähe und gemeinsame Wurzeln zu denen von Gremienspiritualität und Kontemplation: Demut, Zuhören, Achtsamkeit, hierarchiefreie Räume, aus der Stille heraus sprechen, Zeit einräumen für echten Kontakt und Reflexion. Auf diesem Weg getroffene Entscheidungen sind in der Regel sehr nachhaltig. Genau das, was die wirklich guten Geschichten ausmacht: dass sie lange nachwirken.


Dieser Artikel ist eine leicht bearbeitete Zweitverwertung. Zuerst erschien der Text in dem Magazin GemeindeLeiten. Er ist hier auch noch mal in der Originalfassung nachzulesen.

Referentin für missionale Gemeindeentwicklung bei midi, Berln