inspiriert

Ladet in eure Lerngemeinschaften ein!

28. Juni

Der folgende Text in ein leicht gekürzter Auszug aus dem Buch: "Mission - geht's noch?", von Claudia Währisch-Oblau (Hg), das Ende August im Neukirchener Verlag erscheint. Das Kapitel über den Missionsbefehl hat Gotthard Oblau geschrieben.

Was wirklich im „Missionsbefehl steht

Wer sich mit dem Thema Mission beschäftigt, begegnet ziemlich schnell dem sogenannten „Missionsbefehl“ in Matthäus 28,16–20. Seine Aussage scheint klar zu sein: Der auferstandene Jesus erteilt seinen Jüngern den Auftrag, sich auf die Reise zu machen, das Evangelium in fernen Ländern zu predigen, die Heiden zu bekehren und zu taufen. Aber diese Textstelle wurde nicht immer so verstanden. Die frühe und die mittelalterliche Kirche hielt diesen Text für erledigt: Der Anweisung Jesu galt den elf Jüngern und niemandem sonst; die Jünger hatten das Evangelium in die Welt getragen und also ihren Auftrag erfüllt.

Auch als dann in der Neuzeit das Projekt der Weltmission von Europa aus gestartet wurde, kam man zunächst ohne die Legitimierung durch diese Bibelstelle aus. Die Herrnhuter Mission unter Nikolaus Graf von Zinzendorf jedenfalls hat für die theologische Begründung ihrer weltmissionarischen Projekte nicht auf Matthäus 28 zurückgegriffen. Die Auslegung, die uns heute so selbstverständlich ist, stammt von William Carey, dem Gründer der Baptist Missionary Society. Erst er erhob diesen Text zur klassischen biblischen Belegstelle für Weltmission, in seinem 1786 herausgebrachten programmatischen Büchlein: An Inquiry into the Obligations of Christians to Use Means for the Conversion of the Heathens. Erst seither galten die hier verzeichneten Abschiedsworte Jesu als „der Missionsbefehl“ und zunehmend unhinterfragt gewöhnte sich die Kirche daran, sie durch Careys Auslegungsbrille zu lesen. „Geht hin und macht zu Jüngern alle Völker“ passte ja auch nur zu gut in ein koloniales Eroberungsprogramm, das nicht zwischen Christentum und westlicher Zivilisation unterschied! Bis heute rechtfertigen globale Evangelisationsorganisationen, die sich wenig um lokale Kontexte scheren, mit diesem Text ihr Tun. Dabei ist eine solche Lesart des „Missionsbefehls“, so verbreitet sie auch ist, ein Missverständnis und geht völlig an der Intention des Matthäusevangeliums vorbei.

Wir lehnen uns in der folgenden eigenen Übersetzung stark an die Bibel in gerechter Sprache an, die unseres Erachtens am besten der Intention des Matthäusevangeliums entspricht: Die elf Jünger wanderten nach Galiläa auf den Berg, zu dem Jesus sie bestellt hatte. Und als sie ihn sahen, knieten sie vor ihm nieder, einige aber zweifelten. Jesus trat zu ihnen heran und sagte: Gott hat mir alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben. Auf, lasst alle Völker mit euch mitlernen! Taucht sie ein in den Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und der Heiligen Geistkraft. Lehrt sie, alles zu tun, was ich euch aufgetragen habe. Und seht, ich bin alle Tage bei euch, bis an das Ende der Zeiten.

Die folgende Textanalyse stellt vier Fragen: 1. Wo wird das Jesuswort gesprochen? 2. Wer sind seine Adressaten? 3. Welcher Auftrag wird formuliert? 4. Wie wird er begründet?

1. Der Ort: ein Berg in Galiläa – Mission von den Rändern

Vers 16: Die elf Jünger gingen nach Galiläa. Sie stiegen auf den Berg, zu dem Jesus sie bestellt hatte. Im Konzept des Matthäusevangeliums ist (anders als bei Lukas) Galiläa der Ausgangspunkt der christlichen Mission. Das bedeutet: a) Mission kommt nicht aus dem politischen Machtzentrum Jerusalem, sondern aus dem Hinterland, von den Rändern. Galiläa war zur Zeit Jesu eine arme, unterentwickelte Gegend und ein religiöses und ethnisches Mischgebiet: Juden lebten dort neben Nichtjuden. Von Jerusalem aus gesehen also ein zweifelhafter Ausgangsort! b) Galiläa ist die Region, wo Jesus Kranke heilte, seine Weisheit und sein Brot mit den Armen teilte und Menschen aus ihren Fischerbooten und Mautstellen heraus in seine Nachfolge rief. Es geschah auf einem Berg in Galiläa, dass Jesus die Tora auslegte und radikalisierte (die Bergpredigt in Matthäus 5–7) und drei seiner Jünger seine Herrlichkeit und Gleichstellung mit Mose und Elia sehen ließ (Matthäus 17).

2. Die Adressaten: elf Jünger, in Anbetung und voller Zweifel – keine perfekten Christen

Vers 16: Die elf Jünger gingen nach Galiläa. Sie werden hier nicht Apostel genannt! Im griechischen Text steht mathätaì, und das sind Menschen, die lernen. Sie sind nicht die Lehrer derer, die evangelisiert werden sollen. Sie sind selbst noch auf dem Weg, als lebenslang Lernende (s. auch Matthäus 23,10). Die elf Jünger gingen nach Galiläa. Die Zahl elf erinnert daran, dass einer der Zwölf Jesus verraten hatte. Sie sind nicht mehr die vollständige Gruppe, nicht mehr die symbolisch volle und heilige Zahl. Unausgesprochen werden wir an den einen erinnert, der Jesus verraten hat, und das wirft ein gewisses Zwielicht auch auf die Elf: Die Jünger sind Sünder, unvollkommene Menschen und potenzielle Versager.

Vers 17: Als sie ihn sahen, knieten sie vor ihm nieder, einige aber zweifelten. Der griechische Wortlaut ist hier so knapp, dass er auf logisch unterschiedliche Weise in den Satzzusammenhang eingefügt werden kann: auch wenn einige von ihnen zweifelten / obwohl einige zweifelten / aber sie zweifelten noch / andere jedoch zweifelten. Woran zweifelten sie eigentlich? Doch wohl daran, dass der, der da vor ihnen stand, der lebendige Jesus war, der auferstandene Christus. Damit zweifelten sie an der Auferstehung, einem Schlüsselelement des christlichen Glaubensbekenntnisses. Dennoch, obwohl sie zweifeln, beten sie Christus an und beugen ihre Knie. Und das – diese Geste, diese Äußerlichkeit – ist ihre Qualifikation, nicht ihre Gedanken und Überzeugungen. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass die Jünger keine hohe Bildung hatten. Etliche waren Fischer ohne formale Qualifikation. Man stelle sich so etwas heute vor: Frisch bekehrte Leute, glaubensmäßig noch voller Zweifel und Unklarheiten, sogar Menschen ohne Schulabschluss, werden von der Kirche mit der Mission betraut! Jesus hat es getan, und Paulus auch. Vers 18: Und Jesus trat zu ihnen heran und sagte … Jesus selbst überbrückt die Distanz, er lässt sich von ihrer Distanz und ihren Zweifeln nicht abschrecken. Jesus beruft und qualifiziert sie.

3. Der Auftrag: eine Lerngemeinschaft bilden

Der Auftrag Jesu in Vers 19–20 enthält eine Reihung von vier Verben. Im griechischen Original steht aber nur eins davon im Imperativ und nur dieses bildet das Hauptverb des Satzes: mathätéusate! Die anderen drei Verben bilden Partizipialkonstruktionen und sind dem Imperativ zu- und untergeordnet. Leider wird diese Konstruktion in keiner deutschen Bibelübersetzung sichtbar, und auch die Verben sind so übersetzt, dass die eigentliche Absicht der Sendung eher verschleiert als sichtbar gemacht wird. Darum müssen wir jetzt hier sehr genau hinsehen! Jünger*innen machen (mathätéusate) – ladet in eure Lerngemeinschaft ein! Macht sie zu Jünger*innen – diese Übersetzung fand sich noch in der Lutherbibel von 1984 und in der Einheitsübersetzung von 1980. Aber sie verzerrt die ursprüngliche Intention. Denn die, die hier geschickt werden, sind ja selbst Jünger*innen. Die Logik ist also: Macht sie zu dem, was ihr schon seid. Ladet sie ein, das zu tun, was ihr bereits tut. Ein „Jünger“ ist von seiner griechischen Ursprungsbedeutung her (ho mathätäs) ein Schüler oder Lehrling – einer, der lernt. Man denke etwa an die Autos in Großbritannien mit diesem riesigen großen „L“ im Heckfenster. Damit ist gesagt: Attention, still learning! Jeder Jünger und jede Jüngerin Jesu hätte dieses große rote „L“ aufgenäht: Achtung, ich lerne von Jesus! Nur dass man als Apostel und Christenmensch diesen Aufnäher ein Leben lang tragen würde. Denn in der Schule Jesu hört man nie auf, Jünger*in – und also Lernende – zu sein. An diese lebenslangen Lernenden ergeht nun also der Auftrag Jesu: Macht auch andere zu Lernenden! Bringt sie dazu, mit euch zu lernen! Zusammen mit ihnen studiert die Worte Jesu und probiert sie gemeinsam aus! Der „Missionsbefehl“ spielt den Unterschied zwischen den Evangelisten und den Evangelisierten herunter. Er tut das programmatisch und aus Prinzip. Alle zusammen – diejenigen, die schon länger dabei sind, ebenso wie die Neuen – gehen immer noch in die Schule, teilen sich das Klassenzimmer, drücken dieselben Schulbänke. Wenn also alle zusammen lernen, Anfänger*innen wie Fortgeschrittene – wer ist dann der Lehrer? Der Lehrer aller ist Christus, der Prediger der Bergpredigt (vgl. Matthäus 23,10). Lasst alle Völker mitlernen – lernt in interkulturellen Gruppen! Warum steht hier eigentlich „alle Völker“ und nicht „Menschen aus allen Völkern“? Der Begriff des Volkes ist im Deutschen belastet. Das griechische Wort ta ethnä mit Völker zu übersetzen, legt gleich drei mögliche Missverständnisse nahe.

Erstens, das romantisch-neuzeitliche Missverständnis – Völker sind Gruppen von Menschen, die jeweils denselben sprachlich-kulturell-seelischen und territorialen Raum bevölkern. Das hat in der protestantischen Mission dazu geführt, dass einzelne Missionsgesellschaften sich jeweils auf bestimmte sprachliche und ethnische Gruppen konzentriert und dort jeweils ihre eigenen Kirchen gegründet haben. Aber in vielen Gebieten der Welt leben unterschiedliche ethnische und Sprachgruppen neben- und miteinander am selben Ort. So stehen heute in Dörfern in Nordsumatra nebeneinander manchmal drei Kirchengebäude, die zu drei verschiedenen Kirchen gehören und in denen in jeweils einer anderen Sprache Gottesdienst gehalten wird. Menschen, die im Alltag zusammenleben, werden durch ihren christlichen Glauben voneinander getrennt.

Zweitens, das faschistische Missverständnis – als handele es sich um scharf voneinander abgegrenzte kollektive Entitäten, die sich untereinander in einem Kampf ums Dasein befänden. Das erlebt in Deutschland in den neurechten Milieus und in rechtsextremen politischen Parteien wie der AfD gerade eine Neuauflage und beeinflusst bis heute das Denken bis weit in die sogenannte bürgerliche Mitte. In Konsequenz glauben nicht wenige Christenmenschen, dass Menschen muslimischen Glaubens Feinde der Christ*innen seien, die uns ‚unser christliches Abendland‘ wegnehmen wollen.

Und drittens, das staatsbürgerliche Missverständnis der Gegenwart – als handele es sich um rechtlich und territorial klar definierte Zugehörigkeiten mit Grenzen, Pässen, Nationalitäten und Rechtsgemeinschaften. Das hat in Deutschland die Konsequenz, dass die evangelischen Kirchen sich in erster Linie als Kirchen für die deutschen Staatsbürger*innen verstehen. So gründet man deutsche Gemeinden für Deutsche im Ausland und unterstützt abgesonderte „Gemeinden anderer Sprache und Herkunft“ im Inland, statt jeweils vor Ort gemeinsam als Kirche zu leben. Aber nichts davon ist hier gemeint! Das griechische ta ethnä ist die Übersetzung des hebräischen Wortes gojim, was schlicht alle Menschen beschreibt, die nicht zum erwählten Volk Israel gehören. Hier geht es also nicht um abgegrenzte Völker, Ethnien oder Nationen, sondern darum, dass Menschen von Gott eine Sendung mit universaler Reichweite erhalten – etwa so wie bei der Sendung Abrahams in Genesis 12. So wie alle Menschen in und durch Abraham Segen finden sollen, so sollen sie entsprechend auch von dem Jesus-induzierten Lernprozess der Christ*innen profitieren und daran Anteil haben. Dass hier aber „alle Völker“ steht und nicht nur „Menschen aus allen Völkern“, ist programmatisch: Der auferstandene Christus spielt auf die Propheten Jesaja und Micha an, die für das Ende der Zeiten erwarten, dass alle Völker (gojim) zum Berg Zion strömen, um dort von Gottes Gesetz zu lernen, und dass dann eine Zeit des Friedens und des Rechts für alle anbricht (Jesaja 2,1–5; Micha 4,1–5). Diese Zeit hat nun begonnen, nur dass die Bewegungsrichtung sich umgekehrt hat: Nicht die Nichtjuden kommen zu Zion, sondern die Nachfolger*innen Jesu gehen zu Menschen aller Sprachen und ethnischer Zugehörigkeit und richten überall auf der Welt Lerngemeinschaften ein. Aber dass diese Lerngemeinschaften jeweils ethnisch abgegrenzt sein sollen, steht hier nicht! Wir verstehen den Auftrag so: Lasst Menschen aus allen nicht-jüdischen Stämmen, Sippschaften und Volksgruppen gemeinsam mit euch lernen! Richtet jesuanische Unterrichtsklassen ein, die sich zusammensetzen aus Juden und Nichtjuden und aus Menschen aller möglichen Abstammungen und Zugehörigkeiten.

Zweck und Ziel von Mission ist ein Prozess des Lernens und Ausprobierens im Kontext von kulturübergreifenden, gemischt-religiösen und internationalen Begegnungen. Denn interkulturelles Lernen geht tiefer und weiter als das Lernen in homogenen Gruppen. Mission zielt aufs Lernen – nicht umgekehrt. Denn messianisches Lernen ist ein nie endender Prozess. Lehrt sie, alles zu tun, was ich euch aufgetragen habe – bringt die Weisungen Jesu in den Lernprozess ein und lebt gemeinsam danach! Im Urtext ist dieses Lehren als Partizip dem Imperativ-Verb zugeordnet. Demnach müsste man es sinngemäßer so übersetzen: Findet Mitlernende, indem ihr die Worte und Weisungen Jesu einbringt.

Das ist der einzige Vorsprung, den die jüdischen Jünger*innen vor ihren nichtjüdischen Mitschüler*innen haben: Die Apostel verwalten das Lehrmaterial, die Textbücher. Die Tradition der Tora (also das, was wir als Altes oder Erstes Testament kennen) ist zuerst Israel anvertraut. Die Apostel bringen sie mit in die internationalen Lerngemeinschaften, zusammen mit ihrer Auslegung durch den Rabbi Jesus. Das ist das, was sie zu Lehrenden macht: Sie legen die Tora auf den Tisch. Und damit ist auch klar: Wir Christ*innen, die nicht aus der jüdischen Tradition kommen, haben nicht einmal diesen Vorsprung! Wir sind erst recht Lernende, die sich immer wieder korrigieren und zurecht bringen lassen müssen.

Was hat Jesus nun aufgetragen?

Das Matthäus-Evangelium nennt drei Gebote Jesu. Das erste davon findet sich in Matthäus 4,17: Ändert euer Leben! Denn das Himmelreich kommt jetzt den Menschen nahe. Das ist eine Anspielung auf das erste Gebot: Ich bin die Ewige, dein Gott! Ich habe dich aus dem Land Ägypten herausgeführt – aus dem Leben in der Sklaverei. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben! Jesus sagt die nahende Gottesherrschaft zu – so wie die hebräischen Sklav*innen die nahende Gottesherrschaft in Gestalt ihrer Befreiung bereits erlebt haben. Dafür erwartet Gott die Treue der Befreiten zu ihrem Befreier-Gott. Entsprechend erwartet Jesus die Hinwendung zu Gott, deren Machtantritt unmittelbar bevorsteht. Das zweite der Gebote Jesu lautet: Kommt, folgt mir! (Matthäus 4,19) Jünger*innen sind Menschen, die Jesus nachfolgen, das heißt: Sie leben nach dem Geist seiner Gebote. Das dritte: Lasst euer Licht leuchten vor den Menschen. Sie sollen eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen. (Matthäus 5,16) Ein Leben in der Nachfolge Jesu, ein Leben nach den Geboten der Tora hat Vorbildcharakter. Es ist attraktiv für andere. Die Menschen sind bereit zu glauben, dass es sich um eine gute Religion handelt, um einen wahrhaftigen Gott. Auch hier spielt Jesus wieder auf Jesaja und Micha an: Die Völker kommen, um nach den Weisungen des Gottes Israels zu leben, weil Israel dafür ein gutes Vorbild ist (Jesaja 2,2–5; Micha 4,1–5). Der „Missionsbefehl“ zielt also auf die Treue zu Jesus im täglichen Leben. Christ*innen sind Leute, die sich fragen, wie sie im Hier und Heute den Jesus-Willen verkörpern, und darin sind sie dann auch, mehr oder weniger beiläufig, Missionar*innen.

Los – setzt euch in Bewegung!

Auch dies ist im griechischen Original eine Partizip-Konstruktion. Wörtlich übersetzt müsste es also heißen: Indem ihr losgeht, findet Mitlernende aus der ganzen Menschheit. Oder: Als Leute, die sich aufmachen, lernt mit allen, die ihr überall findet. Übersetzt man das Partizip dagegen als Imperativ, bekommt es als Anfangswort des „Missionsbefehls“ ein Gewicht, das ihm eigentlich gar nicht zukommt. Geht los! – Geht hin! – Macht euch auf den Weg! Ein solcher Befehl vorneweg hat in der Neuzeit das ganze Arsenal an Mobilitätsmöglichkeiten und Fernreise-Träumen beschworen. Geht hin! Fahrt los! Überquert Ozeane, durchzieht die Wüsten, überwindet die fernsten Gebirge! In manchen Übersetzungen wird das noch getoppt, indem die „Völker“ fälschlicherweise dem Mobilitätsauftrag zugeordnet werden. Statt macht alle Völker zu Mitlernenden heißt es dann: Geht hin zu allen Völkern! Wie viele Bibellesenden glauben zum Beispiel, der Text würde lauten: Geht hin in alle Welt! Das Partizip poreuthéntes kommt vom Verb poreuomai und dessen Grundbedeutung ist gehen, reisen, wandern. Jesus sagt aber gar nicht, wohin die Jünger*innen gehen sollen.

Wenn man das Matthäusevangelium genauer liest, fällt auf: Matthäus benutzt dieses Partizip gern, wenn er einen Imperativ besonders betonen will. Zum Beispiel in Matthäus 9,13: Geht und lernt, was das heißt: „Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer“. Hier geht es nicht um Gehen. Die Aufforderung ist: Nun lernt es! Bleibt nicht auf der faulen Haut liegen! Deshalb ist der „Missionsbefehl“ kein Reisebefehl. Er ist nur eine Aufforderung, aufzustehen, mit dem Herumlungern aufzuhören, sich dem Handeln zuzuwenden, vom Berggipfel herunterzukommen.

Taucht sie in den Machtbereich Gottes ein! (Learning by immersion)

Fast alle Bibelübersetzungen übersetzen Vers 19b nach wie vor so: Tauft sie im Namen des Vaters … Das liegt vermutlich daran, dass dieser Abschnitt aus Matthäus 28 in jedem Taufgottesdienst gelesen wird und man sich schwertut, diese Tradition zu brechen. Aber diese Übersetzung ist tatsächlich falsch! Das griechische Verb baptizein bedeutet ursprünglich nichts weiter als eintauchen, und damit ist nicht notwendig das Eintauchen in Wasser gemeint. Erst später in der christlichen Kirche wurde das Verb zu einem Fachwort für Taufe. Aber hier wird das Element, in das hinein etwas eingetaucht wird, ausdrücklich genannt, und es ist nicht Wasser: Taucht sie ein in den Namen des Vaters und des Sohnes und der Heiligen Geistkraft. Wichtig ist dabei die Richtungspräposition: „in hinein“. Im griechischen Text steht eis (in) mit Akkusativ, und nicht en (im) mit Dativ. Die Übersetzung: Tauft sie im Namen Gottes … widerspricht also dem griechischen Originaltext! Und sie verzerrt auch hier wieder die Intention: Im Namen Gottes zu taufen, ist ein Autoritätsakt. Die richtige Lesart wäre dagegen diese: Macht sie zu Lernenden, indem ihr sie in den Namen des Vaters, des Sohnes und der Heiligen Geistkraft hineintaucht [hineinstellt, einbettet] und sie lehrt, alles zu tun, was ich euch aufgetragen habe.

Der Bedeutungsradius des griechischen Verbes baptizein entspricht recht gut dem des englischen Verbs to immerse: eintauchen, einbetten, mit etwas vertraut machen. „Macht sie zu Lernenden, indem ihr sie hineintaucht“: Hier geht es um eine Lernmethode! Auf Englisch kann man das sehr sachgemäß wiedergeben: Learning by immersion. So lassen sich zum Beispiel Fremdsprachen am besten lernen. Man taucht ein in die fremdsprachige Umgebung, gibt für eine Weile alle Kontakte zur Muttersprache auf. So beginnt man recht schnell, in der Zielsprache nicht nur zu hören und zu verstehen, sondern auch zu sprechen, zu denken und zu träumen. Dieselbe Lernmethode ist hier gemeint: learning by immersion.

Das leuchtet zusätzlich ein, wenn man sich klarmacht, was mit dem „Namen“ Gottes gemeint ist. Der Name Gottes ist nicht nur eine formale Legitimationsbasis. Der Name Gottes ist vielmehr ein Raum, gefüllt mit Gottes Wirkkraft und Ausstrahlung. Es ist der Raum, in dem Gottes Herrschaft bereits anbricht und spürbar wird – ein Raum, in dem Menschen Gottes Wort und Wirken gelten lassen, erhoffen, davon erzählen und singen – ein Raum, in dem Gottes Weisung (die Tora, „alles was ich euch befohlen habe“) geehrt, gelernt, gefördert und getan wird. Mit anderen Worten: Der „Name“ des dreieinigen Gottes ist der Sammlungs- und Lebensraum der christlichen Gemeinde. Was Jesus sagt, ist nichts weniger als dies: Lernt mit den anderen, den Fremden gemeinsam, indem ihr sie hineinholt in eure Gemeinden. Sie sollen keine Gäste bleiben, nicht als stille Zuhörer auf der Empore sitzen. Wenn es ums Eintauchen geht, dann ist an Inklusion gedacht, an vollgültige Aufnahme. Denn Glauben kann man nur lernen, indem man eintaucht in christliche Gemeinschaft, indem man mittut in ihren Gottesdiensten, ihrer diakonischen Arbeit, ihrem Umgang miteinander, ihrem Bibelstudium etc. Dazu muss man den neu Hinzugekommenen Aufgaben und Verantwortung übertragen – mit demselben Vertrauensvorschuss, mit dem Jesus in seinem „Missionsbefehl“ seine zweifelnden Jünger*innen bedacht hat.

4. Der Indikativ des „Missionsbefehls“: Die Macht liegt bei Christus

Gott hat mir alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. (Vers 18) Geht nun hin … Und seht: Ich bin alle Tage bei euch, bis zum Ende der Zeiten. (Vers 20b).

Indikativ und Imperativ

Der Imperativ des „Missionsbefehls“ zusammen mit seiner dreifachen Partizipialkonstruktion wird von einem Indikativ eingerahmt. Der Auftrag wird in eine Zusage eingewickelt, das menschliche Bemühen mit göttlichem Beistand umhüllt. So ist der letzte Auftrag, den der matthäische Jesus seinen Jünger*innen gibt, eingebettet in eine ganz große Verheißung. Die Macht liegt bei dem auferstandenen Christus, nicht bei den Jünger*innen, die er aussendet. Die Universalität Christi wird zu Beginn des Auftrags (Vers 18) in Raumkategorien ausgesagt („Himmel und Erde“), an seinem Ende (Vers 20) in Zeitkategorien („alle Tage bis ans Ende“). Zu Beginn wird sie als All-Autorität (griech. pasa exousía) zugesprochen, am Ende als persönliche Begleitung: ich bei euch. Interessant ist, dass Jesus den Jünger*innen hier sein Mitgehen ohne Zeitlimit zusagt. Zwar wird auch gesagt, dass Jesus keiner räumlichen Grenze unterliegt. Aber dieser Gedanke ist hier mit seiner All-Autorität verbunden, nicht mit Schutz und Begleitung für die Ausgesandten. Es wird also nicht gesagt: „Wo immer ihr hingeht, ich bin bei euch!“ Stattdessen heißt es: „An jedem Tag werde ich bei euch sein – solange die Welt besteht!“ Auch das ist ein Hinweis darauf, dass der Zuspruch ursprünglich nicht als Schutzbrief für weltreisende Missionar*innen konzipiert war. Gott hat mir alle Macht gegeben. Der griechische Begriff exousía meint Autorität, Vollmacht, Befugnis. Es geht hier also nicht um den abstrakten Gedanken göttlicher Allmacht, sondern um die universale Autorität eines weisen Herrschers. Es geht ja im „Missionsbefehl“ um das Weitertragen von Jesu Geboten. Es geht also um die Geistesmacht und Überzeugungskraft des Tora-Lehrers Jesus, dessen Autorität sich eben von der Tora ableitet. Ihre Überzeugungskraft und lebensfördernde Wirkung ist universal und auf der ganzen Welt gültig und erfahrbar, das bezeugt die hebräische Bibel. Im selben Sinne wird Jesu Autorität überall da zu spüren sein, wo seine Worte studiert, geehrt und praktiziert werden. Auf diese Erfahrung zielt ja der Auftrag Jesu ab: Gerade das interkulturelle Gespräch über die Worte und Weisungen Jesu wird zu der Entdeckung führen, dass Jesus mit seiner Autorität und Wirkkraft schon da ist, überall Herzen öffnet, Gottes Schalom ins Rollen bringt. Wo Fremde mitlernen, zeigt sich die Inspirationskraft der Worte Jesu und spiegelt sich in der Begeisterung und in den Lernerfolgen der Jünger*innen-Schüler*innen in allen Völkern und Kulturen. In dieser Dynamik zeigt der Auferstandene sich als präsent. Es geht also nicht darum, Jesus den Fremden zu bringen, sondern Jesus mit ihnen und unter ihnen zu entdecken.


Buchcover von Claudia Währisch-Oblau "MIssion - geht's noch?", Neukirchener Verlag

Das Buch „Mission – geht’s noch? Warum wir postkoloniale Perspektiven brauchen“ beschäftigt sich im ersten Teil mit dem allgemeinen (bisherigen) Missionsverständnis und lässt in vielen verschiedenen Beiträgen Expert*innen zu Wort kommen, die klug und nachvollziehbar erklären, warum es Zeit für ein neues Missionsverständnis ist.

Das Buch erscheint Ende August im Neukirchener Verlag und kostet 20,00€.