Kirche zwischen unbekanntem Terrain und Faszination
Wer aufbricht, schlägt einen neuen Weg ein. Er und sie wagen sich hinaus in die Wildnis. So nenne ich den Zustand, den Pioniere und Pionierinnen erleben, wenn sie aufbrechen, um Kirche anders auszudrücken. Oft ist es die „Struktur-Wildnis“ oder die „Unverständnis-Wildnis“, fern der „Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht-Zivilisation“.
Da ist die junge, alleinerziehende Mutter, die sich selbst nie als Kirchenpionierin bezeichnen würde. Sie hat es im dritten Lockdown der Corona-Pandemie einfach nicht mehr ausgehalten, dass es keine Angebote für Familien in ihrer Kirchengemeinde gab. Da hat sie begonnen, Stationenwege einzurichten, in denen Familien wertvolle Zeit miteinander und Begegnungen mit Gott haben können. Ihre Freundinnen meinen, dass das doch zu viel Aufwand sei und sie lieber die Pfarrerin ihren Job machen lassen sollte.
Da ist der der Teamleiter einer großen Automobilfirma, der immer wieder erstaunt feststellt, dass er Gott eher in seiner Lieblingskneipe beim Bier erlebt als sonntagmorgens im Gottesdienst. Vor ein paar Wochen hat er begonnen immer donnerstags zu „Bibel und Bier“ einzuladen. Die Freunde, zu denen er früher in den Hauskreis gegangen ist, haben nur mit dem Kopf geschüttelt.
Da ist die Pfarrerin einer kleinen Landgemeinde, der eines Tages blitzartig der Gedanke kommt, dass sie statt sonntags nach dem Gottesdienst zum Kirchencafé einzuladen doch lieber mit einer italienischen Ape, einem dreirädrigen Rollermobil, mittwochs auf dem Dorfplatz mit wem auch immer einen Espresso trinken könnte. Der Dekan hat nur den Kopf geschüttelt und gemeint, sie könne das schon machen, wenn der Gottesdienst am Sonntag nicht zu kurz käme.
Sie alle brechen auf. Sie wagen sich hinaus – dorthin, wo es unbequem ist und schlagen einen Weg ein, den es bis jetzt noch nicht gibt. Ich habe begonnen, diesen Weg „Wildnis“ zu nennen. Denn ich bin überzeugt: Jeder Neuaufbruch ist damit verbunden, dass wir Bestehendes hinter uns lassen und ein neues Gebiet erkunden. Dieses Abenteuer birgt beide Facetten: Da ist zum einen Faszination für das, was passieren kann und wird. Das Neue zieht uns in seinen Bann und wir staunen über das, was plötzlich möglich ist: Kirche im Café, Urban Gardening im Stadtteil, Gottesdienst im Erlebnisschwimmbad. Und zum anderen ist der Neuaufbruch immer auch herausfordernd und bedrohlich. Wir verlassen etablierte Strukturen. Wir riskieren Kritik oder dass unsere Idee scheitert. Wir stoßen an Strukturhindernisse und auf Unverständnis.
Wer aufbricht, der findet sich in der Wildnis wieder. Zwischen Faszination und Bedrohung. So ist auch die echte Wildnis voller Naturschönheiten, wunderschönen Lichteinfällen, bunten Farbspielen, Vogelgezwitscher und klaren Nächten. Und gleichzeitig voller Gefahren von Naturgewalten, plötzlichen Wetterumschwüngen, undurchdringlichen Wäldern und unbekanntem Terrain.
Wer hinaus in die Wildnis startet, macht häufig die Erfahrung nicht dazuzugehören. Menschen, die aufbrechen, passen oft nicht in ihr Umfeld und werden von anderen nicht verstanden. In Gesprächen mit Pionierinnen und Pionieren, die etwas Neues starten, höre ich immer wieder davon, dass sie einsam sind, fehlende Rückendeckung und wenig Unterstützung – strukturell, persönlich und ideell – erfahren. Es sind „Fremde“ im eigenen Laden. Es ist ganz schön herausfordernd da draußen.
Wie also kann man dort draußen in der Wildnis leben? Wie verliert man nicht die Faszination für den Neuaufbruch und bleibt gleichzeitig wachsam genug für die Herausforderungen, die die Wildnis mit sich bringt?
Ein paar Ideen habe ich hier zusammengestellt. Denn wer weiß? Vielleicht gilt das, was in der „echten“ Wildnis gilt, ja auch für die innere Wildnis.
1. Wir brauchen ein Lager mit einem Feuer!
Dort draußen in der Wildnis brauchen wir einen guten Lagerplatz. Wer hinausgeht, sollte sich als erstes eine Möglichkeit schaffen, ein Feuer anzuzünden. Es wird ungemütlich dort draußen in der Wildnis. Das Feuer wärmt und definiert den Ruheplatz. Henry Nouwen beschreibt Spiritualität als „das innere Feuer hüten“. Wer aufbricht, um Kirche anders auszudrücken, braucht unbedingt eine Einübung darin, das innere Feuer zu hüten, Spiritualität zu leben. Gebetsformen, Begegnung mit dem Heiligen und den Rückzug darin.
2. Wir brauchen Verbündete!
Wer schon mal wirklich in der Wildnis war, weiß, dass die Einsamkeit und die Herausforderungen dort draußen nicht alleine zu bewältigen sind. Wir brauchen Menschen, die mit uns unterwegs sind. Das muss nicht unbedingt immer direkt sein. Oft reicht das Wissen, dass es Menschen gibt, die dasselbe Anliegen teilen und auch „dort draußen“ unterwegs sind. Deshalb ist es entscheidend, dass Pionierinnen und Pioniere immer wieder Zeiten und Möglichkeiten haben, sich miteinander auszutauschen und Anteil zu geben. Sucht euch und schafft Verbindungen! Betet und teilt miteinander, was euch bewegt!
3. Wir bauen Hütten oder schlagen ein Zelt auf!
Draußen in der Wildnis können wir kleine Hütten bauen. Es sind Schutzräume, gebaut aus Zweigen, herumliegenden Ästen, Moos, Rinde – Materialien, die schon da sind. Mache schlagen auch ihr Zelt auf. Auf jeden Fall geht es darum, anzufangen, mit dem, was da ist. Es braucht dafür keine guten Baupläne, sondern den Blick auf das, was vorhanden ist. Michael Moynagh beschreibt die Fresh Expressions gerne auch als „Dach für die Seele“ und rät: „Fang damit, was du hast und wer du bist!“ ( vgl. Michael Moynagh, Fresh X. Das Praxisbuch, Brunnen Verlag, Gießen 2016, S. 183.)
4. Wir leben dort draußen mit festem Rücken und weichem Herz!
Um draußen gut zu überleben, ist es entscheidend, unsere Herz- und Rückenmuskulatur zu trainieren. Ein starkes Rückgrat meint den aufrechten Gang, der daher kommt, dass wir gelernt haben, für uns zu stehen. Unseren Weg zu gehen – und das unabhängig von der Meinung anderer. Ein starker Rücken kommt aus der Gewissheit, dass ich meinem Weg vertrauen darf. Neben dieser Rückenmuskulatur sollten wir unsere Herzmuskulatur in den Blick nehmen: Wer herausgefordert ist und dauernd an Grenzen stößt, der neigt dazu, hart zu werden und unbarmherzig mit Menschen im nahem Umfeld oder mit sich selbst zu sein. Achten wir darauf, dass Barmherzigkeit und Mitgefühl, vor allem mit uns selbst, uns bestimmen. Bleiben wir offen, verletzlich, feinfühlig – auch uns selbst gegenüber! Das lernen wir in der Freundschaft mit Gott, der unsere Herzen berühren wird.
5. Wir brauchen Proviant!
Wer in der „echten Wildnis“ unterwegs ist, nimmt Müsli, Trockenfrüchte, Nüsse, Brot mit. Auch wir sollten uns gut ums uns kümmern, wenn wir dort draußen unterwegs sind. Wer Kirche anders ausdrückt und als Pionierin oder Pionier frische Formen von Kirche lebt, braucht eine gute Versorgung: Für mich spielen dabei Zuversicht und Vertrauen die entscheidenden Rollen. Machen wir immer wieder Pausen und stärken uns an dem Wissen (manchmal nur dem Ahnen), dass Gott bei uns ist und uns begleitet? Oft können wir uns das selbst nicht zusprechen. Dann braucht es Menschen und Strukturen, die uns wissen lassen: Du bist auf dem richtigen Weg! Du bist nicht allein! Wenn entschieden wird, einen Pionier oder eine Pionierin hinauszuschicken, sollten wir in unseren Kirchen und Organisationen deshalb immer auch bereit sein, diese Person mit dem nötigen Zuversichts-Proviant auszustatten: Supervision, geistliche Begleitung, Gebet und Teamkonstellationen, die die Zugehörigkeit erleichtern!
Es ist wunderschön dort draußen. Wir werden Erfahrungen machen, die wir niemals mehr missen möchten. Es wartet unbekanntes Terrain auf uns voller Überraschungen und Andersartigkeit. Brechen wir auf! Und bauen wir Behausungen für unsere Seele dort draußen!