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ForuM-Studie: Und nun?

31. Januar

Eine knappe Woche ist es her, da wurden in Hannover die offiziellen Zahlen und Studienergebnisse vorgestellt, die die sexuellen Übergriffe und Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche zwischen 1949 und 2020 beleuchten sollen. Schon vor Erscheinen der ForuM-Studie war klar: Eine umfangreiche und umfassende Aufklärungsarbeit sieht anders aus. Kritik wurde beispielsweise daran geäußert, dass für die Datenerhebung lediglich Disziplinarakten von Pfarrpersonen untersucht wurden, nur in ganz wenigen Fällen die Personalakten.

Niederschmetternde Zahlen und Teilergebnisse

Ebenfalls für Kritik sorgte die Fokussierung auf den letzten Teil der Studie, die Teilstudie E, die die Zahlen der gelisteten Missbrauchsfälle bezifferte. Aber ist es nicht klar, dass das genau das war, worauf alle so lange gewartet hatten? Die Antwort auf die Frage, ob es in der evangelischen Kirche genauso schlimm ist wie in der katholischen Kirche. Und die war niederschmetternd. 1259 Beschuldigte und 2225 Betroffene konnten in dem Zeitraum von 1949 bis 2020 in den Disziplinarakten festgemacht werden. Es gab jedoch bereits bei der Präsentation zur Veröffentlichung Hochrechnungen, dass diese Zahlen vermutlich eher bei 3497 Beschuldigten und 9355 Betroffenen liegen müssten. Die anderen Teilstudien und die darin aufgeführten Ergebnisse gingen in den (berechtigten) Erschütterungs- und Entsetzens-Bekundungen unter. Dabei sind in den Teilprojekten durchaus interessante Ergebnisse, die bei der Aufarbeitung und Prävention helfen können, vorhanden.

Teilstudie A: Evangelische Spezifika: Kirche und Gesellschaft. Sie untersuchte aus einer historischen Perspektive den kirchlichen und öffentlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche.

Teilstudie B: Organisation und Person: systemische Bedingungen und die Praxis der Aufarbeitung (sexualisierter) Gewalt. Das Teilprojekt B untersucht die bisherige Praxis der Aufarbeitung von (sexualisierter) Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie.

Teilprojekt C: Perspektiven Betroffener. Das Teilprojekt C erforscht die Erfahrungen und Sichtweisen von Menschen, die sexualisierte Gewalt in evangelischen Kontexten erlitten haben. Viele Betroffene haben sich aktiv an der Entstehung der Studie beteiligt, in dem sie ihre Erfahrungen und Erlebnisse in persönlichen Interviews berichtet haben.

Im Teilprojekt D: Die Perspektive Betroffener auf Strukturen der evangelischen Kirche und deren Nutzung durch Täter*innen wurden die im Teilprojekt C durchgeführten Interviews weiterverarbeitet.

Erst Teilprojekt E: Kennzahlen und Umgang – Kennzahlen zur Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs im Bereich der evangelischen Kirche in Deutschland und Merkmale des institutionellen Umgangs mit Missbrauchsvorwürfen benannte dann die konkreten Zahlen und wie diese einzuordnen sind.

Einordnung und Umgang mit den Ergebnissen

Direkt im Nachgang der Veröffentlichung wurden auf Social Media Kacheln geteilt, in denen sich Kirchenoberen (u.a. EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs) und der Präsident der Diakonie in Deutschland, Rüdiger Schuch, bestürzt zeigten. Dies sei erst die Spitze der Spitze des Eisberges war zu hören und die Ergebnisse seinen schlimmer als erwartet, aber man wolle sie in Demut annehmen und ertragen.

Das Blog-Magazin Die Eule schickte Redakteur Philipp Greifenstein direkt nach Hannover, damit dieser direkt von der Veröffentlichung und den darauffolgenden Diskussionen und Einordnungsversuchen berichten konnte. Auf der Website der Eule finden sich alle Artikel in einem eigenen Themenschwerpunkt.

Friedrich Kramer, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) gab noch am selben Tag (25.01.2024) eine Pressemitteilung raus, in der er betonte: „Wir wollen hinsehen, wahrnehmen und dann einstehen dafür, was geschehen ist. Wir wollen Verantwortung übernehmen. Dafür müssen wir uns konfrontieren lassen von dem, was Betroffene durchlitten haben und welch furchtbare Folgen das für ihr gesamtes Leben hat.“ Betroffene bat er, sich zu melden, um die Aufarbeitung vorantreiben zu können. Die EKM war eine der wenigen Landeskirchen, in denen zumindest teilweise Personalakten durchforstet worden waren.

In der EKiR befand deren Vizepräses Christoph Pistorius, dass es ein “ganzes Bündel an Maßnahmen”, wie ein staatliches Aufarbeitungsgesetz oder eine Dunkelfeld-Studie zur Aufarbeitung und Prävention von Gewalt geben müsse und erklärte seine Haltung und Ideen in einem Interview. Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Thorsten Latzel, veröffentlichte tags darauf einen Brief an die Gemeinden seiner Landeskirche, in dem er die Gemeindemitglieder um offene Ohren und Herzen für die Erfahrungen und das Leid der Betroffenen bat. Indem man denen, denen unsagbares widerfahren sei, endlich zuhöre, könnte Aufarbeitung geschehen. In seinem Präsesblog hat er ebenfalls ein Gebet veröffentlicht, dass all denjenigen, die angesichts der Studie sprachlos sind, Worte für den Kontakt mit Gott leihen sollen.

Auch in der badischen Landeskirche sorgte die ForuM-Studie für Entsetzen: So stellten in einer gemeinsamen Stellungnahme die badische Landesbischöfin Heike Springhart und Oberkirchenrat und Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werks Baden, Urs Keller klar: „Wir müssen uns den erschütternden Geschichten der Betroffenen stellen. Auch in unserer Kirche und Diakonie war der Umgang mit Übergriffen und sexualisierter Gewalt lange Zeit von Versagen und Wegsehen geprägt.“ Auch sie ermuntern Betroffene, sich zu melden und wollen mithilfe von Schutzkonzepten und Aufklärungsarbeit dazu beitragen, dass eine sensible Haltung in den kirchlichen Strukturen einzieht und diese dahingehend kritisch hinterfragt werden, ob sie Missbrauch begünstigen oder verhindern. In ihrem Newsletter verwies die badische Landeskirche auch auf eine Einrichtung, in der in den 50er Jahren sexuelle Übergriffe stattgefunden haben. In einem Interview erklärt der heutige Einrichtungsleiter Holger Henning, wie sie mit der dunklen Geschichte des Hauses heute umgehen. Die Evangelische Kirche in Baden hat darüber hinaus neben den Betroffenheitsbekundungen und Aufarbeitungsversprechen auch eine Einordnung der Studie und ihrer Ergebnisse vorgenommen und diese übersichtlich auf einer eigens eingerichteten Themenseite aufgeführt.

Die Spitze des Eisberges

Es gäbe noch so viel mehr zu schreiben, noch so viel mehr Stimmen, die es verdient hätten, gehört zu werden. Und so viele Fragen, die ungeklärt sind. Wie zum Beispiel: Kann eine neugestaltete, kleinere, schlankere Kirche der Zukunft Missbrauchsstrukturen verhindern? Kann und wird die evangelische Kirche aus dieser Studie lernen? Wäre ein gemeinsamer, ein ökumenischer Weg der Aufklärung, der Vergebung und der Prävention möglich? Und was ist eigentlich mit den Freikirchen?

Es wird also wohl auch noch mehr geschrieben werden. Und es werden hoffentlich noch mehr Stimmen gehört, die bisher lange geschwiegen haben. Es werden vermutlich immer wieder erschreckende und entsetzliche Dinge ans Tageslicht kommen. Wir als Kirche (sowohl auf evangelischer als auch auf katholischer Seite) werden viel um Vergebung bitten und zeigen müssen, dass wir aus den Fehlern und begünstigenden Strukturen der Vergangenheit gelernt haben. Hoffentlich.

Autorin, Lektorin, Redakteurin von Beruf. Im Fresh X-Netzwerk und an der CVJM-Hochschule. Mitarbeitende, Mitdenkende, Mitgestaltende in Kirche. Suchende, Sehnende, Scheiternde, Fragende, Findende, Fordernde im Privaten.