Ein Plädoyer für Veränderung, Vielfalt, Kreativität
„Die Zeit für große Veränderungen ist jetzt, bessere Zeiten kommen nicht mehr. Aber es gibt sie, die zahlreichen Aufbrüche vor Ort, die Stärkung der Regio-Lokalen Kirche, motivierte Mitarbeitende im Haupt- und Ehrenamt. Sie sind Kirche, sie wollen Kirche sein. Sie zu stärken, sie zu unterstützen, das ist für mich nicht erst jetzt die wichtigste Aufgabe der Kirchenleitungen: Lasst sie machen!“ 1
„Die Gottesdienstfeier fällt aus, wegen Personalmangels“, lese ich auf dem Zettel an der Tür. Daneben ein Schild mit Wegbeschreibung zu einem anderen Ort. Einem anderen Fest. Ja, auch dort werden sie Gott feiern. Aber was soll ich auf einer fremden Feier?
Ist das die Zukunft der Kirche? Für die Menschen der regiolokalen Gemeinde Moers-Hochstraß schwer vorstellbar. Darum wuchs schrittweise und beharrlich die Idee eines Erprobungsraumes2, in dem die Menschen vor Ort den Auftrag der Kirche in ihre eigenen Hände nehmen. Um die Verantwortung der Ehrenamtlichen zu dokumentieren, wurde das Projekt als „Gemeinde ohne leitende Pfarrperson“ gekennzeichnet. In dieser Konzeption wird auf die Präsenz einer Pfarrperson vor Ort verzichtet. Um jedoch die Ordnung und Qualität der Gemeindeentwicklung zu gewährleisten, wird eine unterstützende Struktur durch Pfarrpersonen und die Zusammenarbeit mit den anderen Gemeinden der Region mitgedacht.3 Darum die Begrifflichkeit der regiolokalen Gemeinde.
Natürlich löst diese Konzeption Irritation und Kritik aus, denn die vertrauten, traditionellen hierarchischen Organisationsstrukturen der Kirche räumen dem Pfarramt eine entscheidende Organisations- und Gestaltungkraft ein. Und das hat Folgen: Wo immer diese Strukturen aufgebrochen werden, geht das einher mit dem Verlust von Macht und Einfluss. Gott auf Seinem Weg (Phil.2,6-7) in liebender Aufmerksamkeit zu folgen könnte im Wechselspiel von Führen aufgrund der eigenen gewonnen Erkenntnis und sich führen lassen von der Kreativität, Phantasie und Leidenschaft der Menschen vor Ort geschehen. Sabrina Müller bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Servant leaders, wie der hier vorgestellte Leitungsstil in der Transformationsliteratur auch bezeichnet wird, stellen nicht die Durchsetzung ihrer eigenen Theologie oder ihres eigenen Kirchenbildes in den Fokus ihres Dienstes, sondern richten ihren Blick radikal auf die beteiligten Akteur:innen und bemühen sich um einen Brückenschlag.“4 Schon 1989 sieht der katholische Theologe und Schriftsteller Henry Nouwen in dem Festhalten der Kirche an der Macht den Hauptgrund, warum viele Menschen die Kirche verlassen.5
Wo immer diese Strukturen aufgebrochen werden, geht das einher mit dem Verlust von Macht und Einfluss.
Anzumerken sei an dieser Stelle auch, dass die derzeitige Zentrierung auf die Pfarrperson nicht durchzuhalten sein wird – es sei denn, wir verabschieden uns von der ‚Verleiblichung‘ der Kirche, von der Idee, als Gemeinde vor Ort in Beziehung zu leben und werden stattdessen zu einer zentralisierten Dienstleistungsorganisation. Auf welche Wege uns die Zukunft auch führt, es werden Wege sein, die nur Ehrenamtliche und Hauptamtliche miteinander im Prozess entdecken können, in dem demütigen Wissen, dass zurzeit niemand sagen kann, wie die evangelische Kirche 2040 konkret aussehen wird.
Paradigmenwechsel
„Ist da jemand, der mich wirklich braucht? Ist da jemand? Ist da jemand?“ singt Adel Tawil. Tilmann Haberer schreibt: „Was das Christentum für morgen ausmacht, geschieht nicht für die Mitglieder, im Idealfall nicht einmal mit ihnen. Es kommt von ihnen selbst.“6 Das gilt nicht nur für neue Formen von Kirche „out of the box“, also um Projekte, die neben der Kirche entstehen, sondern auch für die Kirche selber. Es geht um die Fragen „Wie schaffen wir Bedingungen, unter denen Menschen neugierig oder einfallsreich werden? Welche Atmosphäre ermutigt Menschen, ihr Bestes zu geben?“7 Hans-Herman Pompe formuliert die Chancen der Kreiskirchlichen Leitungsebene wie folgt: „Ihre wichtigsten Werte und Hebel sind (…) die Unterstützung von Fähigkeiten, Talenten und Kreativität der Menschen. Das Schöne: Auch wo Finanzen zurückgehen, kann Kirche solche Schätze heben, weil das Evangelium sich nicht erschöpft.“8
Auch wo Finanzen zurückgehen, kann Kirche solche Schätze heben, weil das Evangelium sich nicht erschöpft.
Die regiolokale Kirchenentwicklung der Zukunft versteht sich dabei nicht nur als eine „Kirchenentwicklung für die Menschen“. Sie wird sich nicht nur um eine angemessene Versorgung ihrer Mitglieder kümmern, als eine „Versorgungskirche“. Sie wird auch nicht aufgehen in einer „Kirchenentwicklung mit den Menschen“, also sich als „Beteiligungskirche“ verstehen, in der Menschen eingeladen werden, bei dem mitzumachen, was anderen wichtig erscheint. Die regiolokale Kirchenentwicklung der Zukunft wird immer die Perspektive einer „Ermöglichungskirche“ einnehmen, einer „Kirche der Menschen“9, in der Menschen das Geschick ihrer Kirche in ihre eigenen Hände nehmen und ihre eigenen Ideen, Gedanken und Vorstellungen entfalten. Es wird zu einem Paradigmenwechsel von „top down“ zu „bottom up“ kommen. Eine Vision, die so alt ist wie die evangelische Kirche.
Die Geburtsstunde
In der Schrift von 1520 „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ schreibt Martin Luther: „Christen sind Priester.“ „Sie dürfen durch Gottes Gnade vor Gott als Priester treten.“10 Noch deutlicher wird er in seiner Schrift „An den christlichen Adel“. Hier einmal im O-Ton:
„Was ausz der tauff krochen ist / das mag sich rumen / das es schon priester Bischoff vnd Bapst geweyhet sey / ob wol nit einem yglichen zympt / solch ampt zu vben“11
Diese reformatorische Entdeckung des „allgemeinen Priestertums“ begründet für Luther Würde und Auftrag eines jeden Christenmenschen. In einer anderen Situation bringt es Luther einmal so auf den Punkt:
Es ist der Glaube, „der vns alle tzu pffaffen / vnnd pffeffyn macht“.12
Um der Ordnung der Kirche willen versucht Luther wenige Zeilen später in der „Freiheit eines Christenmenschen“ die Funktion von Priestern und Pfarrpersonen neu zu umschreiben. Dabei verzichtet er tunlichst darauf, dem Amt eine besondere hierarchische Stellung und Weihe zuzubilligen. So wählt er zur Umschreibung des Auftrages – in Anlehnung an 1. Kor. 4,113 – die Worte, sie seien „Diener Christi“ und „Verwalter des Evangeliums“. Dabei bleibt das „allgemeine Priestertum“ der bestimmende Kontext, in den das Amt einzuordnen ist.“14
„Luther hält zeitlebens an dem Gedanken des ‚allgemeinen Priestertums‘ fest. So betont er in einer Predigt von 1541 noch einmal ausdrücklich: „Alle Christen, die diese Gnade angenommen haben, sollen gedenken, dass sie Pfaffen und im priesterlichen Stand sind.“15
Aufgenommen wird dieser Gedanke z.B. von der Kirchengemeinde Halen der Grafschaft Moers 1530. Sie fühlen sich nicht gut seelsorglich versorgt und suchen sich Unterstützung durch Wanderprediger. Dieses eigenständige Engagement wird in der Grafschaft, in Person von Graf Wilhelm, überraschend geduldet.16
Kirchengeschichtliche Wirkung
Durchsetzen kann sich Luthers Gedanke von 1520 jedoch nicht. Die Freiheit, die Luthers Worte damals atmen, scheitert an der Realität, der Auseinandersetzung mit dem linken Flügel („Schwärmer“ und „Wiedertäufer“). Wie die Freiheit des „Priestertums aller Gläubigen“ und die Ordnung einer Kirche miteinander zu verbinden sei, wird 1530 in der Confessio Augustana an das Amt gebunden (vgl. CA 5 +14)17. Aber – so kann gefragt werden – gilt es nicht, diese Artikel im Kontext von CA 7 zu hören, indem betont wird, dass die Verantwortung für Verkündigung und das Reichen der Sakramente der Kirche anvertraut ist? Zumindest ist hier eine Tendenz zu erkennen, dass Amt und Gemeinde sich gegenseitig ergänzen und in ihrer geistlichen Verantwortung eine Einheit bilden. Noch heute wird dies sichtbar, wenn die Gemeinde in der Ordination einer Person aus ihrem Kreis das Amt überträgt.18
Zusammengefasst kann jedoch gesagt werden, dass der Gedanke des „allgemeinen Priestertums“ in der reformatorischen Kirche – spätestens mit der altprotestantischen Orthodoxie – in Vergessenheit gerät und es zu einer Reklerikalisierung kommt19, indem das Amt der Gemeinde wieder gegenübergestellt wird. Der Pietismus entdeckt den Gedanken jedoch wieder und versucht ihn, in einer Parallelstruktur neben der Amtskirche als Teil der Kirche zu etablieren. Die ersten „Fresh-X Projekte“20 entstehen. Hier sei beispielhaft an den in Moers geborenen Gerhard Tersteegen (*1697) erinnert, der – von Beruf Weber – als Laienprediger in Mülheim wirkte und dessen Schriften und Lieder die Kirche prägten.
In der Auseinandersetzung der Bekennenden Kirche mit den Deutschen Christen rückt in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts der Gedanke des „allgemeinen Priestertums“ wieder ganz zentral in den Blick. So besagt die sechste These der Barmer Theologischen Erklärung, dass die Kirche, also alle Christ:innen, dazu berufen und aufgerufen sind, die Botschaft von der freien Gnade Gottes in Wort und Tat weiterzugeben.21
Die Hierarchisierung des Amtes kehrt zurück
Nach 1945 verliert nicht nur in der lutherischen, sondern auch in der kirchlichen Praxis der reformierten Tradition, die eigentlich von einer flachen Hierarchie ausgeht, das „allgemeine Priestertum“ an Bedeutung. Es tritt eine „Hierarchisierung“22 des Pfarrberufs in den Vordergrund. Diese Entwicklung ist zurückzuführen auf das Selbstverständnis der Pfarrpersonen, das sich aus ihrer umfangreichen Ausbildung, den theologischen Qualifikationen und der guten Besoldung ergibt und ihren Widerhall in den Erwartungen der Gesellschaft an den Berufsstand findet. Dem Amt wird so eine „herausragende spirituelle, theologische und religiöse Kompetenz“23 zugesprochen. Diese Entwicklung spiegelt sich beispielsweise in der Lebensordnung der EKiR bezüglich der Durchführung von Gottesdiensten wieder.24
Herausforderungen
Zusammenfassend kann festgehalten werden: Immer wieder war und ist die Kirche in der Versuchung, das Amt der Gemeinde gegenüberzustellen. Die reformatorischen Erfahrungen des „allgemeinen Priestertums“ brachen sich in der Geschichte jedoch immer wieder Bahn. Heute gilt es zu fragen, ob nicht angesichts des eigenen Anspruchs, nah bei den Menschen sein zu wollen, der Auftrag des Pfarramtes und die Rolle der Ehrenamtlichen auf diesem Hintergrund neu zu justieren sind. Die Kirche soll doch „geistliche, kreative Gemeinschaft“ sein und „attraktiv für engagierte Menschen vor Ort“.25
Hier erscheinen mir die Gedanken von Prof. Sabrina Müller; Ev. Theol. Fakultät Universität Bonn, wegweisend:
- Das ordinierte Amt schränkt das allgemeine Priestertum nicht ein, sondern sorgt dafür, dass es sich entfalten kann.26 Als gute „Verwaltende“ vermehren das Amt die anvertrauten Pfunde.
- Als „Verwaltende“ dienen die Pfarrpersonen dem Evangelium durch ihren „prophetischen Auftrag“. Dabei geht es darum, zu entdecken, wo Gottes Geist weht, d.h. zu entdecken, wo sich Gottes Charismen in Menschen entfalten und worin die Charismen der gesamten Gemeinde liegen.27
- Ziel ist es, „ein befreiendes und gleichberechtigtes Umfeld zu schaffen, so dass die Gemeinde (…) vielseitig und blühend sein kann“28. Auf diese Weise kann gewährleistet werden, dass die gute Nachricht durch Wort, Tat und Struktur alle Menschen erreicht.
Beispiel aus der Praxis
Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung der Gemeinde Moers-Hochstraß zu lesen. Sie hat in Vorbereitung auf die sich verändernde Situation ihre Antworten über Jahre entwickelt. Bereits Anfang 2000 war dem Kirchenvorstand der Gemeinde klar, dass sich die Finanz- und Pfarrstellensituation in der Gemeinde auf Dauer radikal verändern würde. Die Gemeinde verstand sich als eine Beteiligungskirche im Sinne von Mt.28,19a: „nehmt alle Völker in die Jüngerschaft hinein“29 (Belonging before Believing)30. Aus diesem Selbstverständnis heraus entstand eine Neukonzeption31. Die besondere Aufgabe der Pfarrperson lag in dieser Konzeption in der Entwicklung neuer Strukturen und der Gewinnung und Stärkung von Mitarbeitenden.
Eine ernsthafte Herausforderung ergab sich Mitte des ersten Jahrzehnts mit dem Wegfall einer der beiden Pfarrstellen. In den nachfolgenden Jahren kam es zur Streichung von Büro-, Organist:in- und Küster:instelle. Mit jeder neuen Streichung und dem Überwinden der damit einhergehenden Herausforderungen wuchs das Verantwortungs- und Selbstbewusstsein der Mitarbeitenden. Aus einer Beteiligungskirche wurde auf diese Weise eine „selbstwirksame Kirche“. Es entwickelte sich eine Kirche, deren Ehrenamtlichen das Schicksal der Gemeinde als persönliche Herausforderung in die Hand nahmen. Dabei wurzelte die Bereitschaft zur eigenverantwortlichen Mitarbeit in der „Faszinationskraft der Lücke“. Denn Lücken wurden ausgehalten. Es galt: „In Hochstraß gibt es neben den Pflichtaufgaben32 nur das, wofür jemand ein Herz hat.“
Eine weitere Phase wurde eingeleitet, als Mitarbeitende in Eigeninitiative ein Café in einem sozialen Brennpunkt gründeten. Es wirkte sich inspirierend auf das interne Gemeindeleben aus. Man spürte: Hier sind Dinge möglich! Bemerkenswert war, dass mit der wachsenden Übernahme von organisatorischer Verantwortung auch das Selbstbewusstsein wuchs, spirituell die Gemeinde mit zu gestalten. So entwickelten sich im Folgenden z.B. zwei neue Gottesdienstformate. Und aus einer „Selbstwirksamen Kirche“ wuchs eine „Ermöglichungskirche“ hervor. Eine Kirche, die Räume öffnete, gegründet in einer Vertrauenskultur, die sich in fünf Worten zusammenfassen ließ: „Das Presbyterium ließ sie machen!“ Die Aufgabe der Pfarrperson bestand nun neben den normalen pfarramtlichen Aufgaben in der Begleitung von Ehrenamtlichen und der Reflexion der Entwicklung.
Die regiolokale Kirchenentwicklung der Zukunft wird immer die Perspektive einer „Ermöglichungskirche“ einnehmen, einer „Kirche der Menschen“, in der Menschen das Geschick ihrer Kirche in ihre eigenen Hände nehmen und ihre eigenen Ideen, Gedanken und Vorstellungen entfalten.
Anfang 2020 begutachte die Gemeinde ihren Weg. Im Rückblick kann man sagen, dass dabei der „Kreislauf der Inspiration“ die Reflexion bestimmte: Wo findet die Gemeinde ihren Halt? Wie prägt der Halt die Haltung der Gemeinde? Wie gestaltet die Haltung das Verhalten der Gemeinde um? Und wie verändert das Verhalten die Verhältnisse der Gemeinde? Und wie prägt diese wiederum den Halt der Gemeinde? usw.33 Das Ergebnis war eine „Gemeinde-DNA“, aus der heraus ein Gemeindeentwicklungsprozess gestartet wurde. Aufgrund der Tatsache, dass 2027 die Pfarrstelle vor Ort wegfallen wird, wurde nun entschieden, dass der Pfarrperson vor allem unterstützende und begleitende Funktion zukommt: Sie hat sich um die Förderung der Mitarbeitenden zu sorgen, um auf diese Weise die Selbstwirksamkeit der Gemeinde zu stärken.34
Seit 2023 wird nun über die Zukunftsgestalt einer regiolokalen Gemeinde ohne Pfarrperson nachgedacht. Dabei leiten die Gemeinde sieben Fragen:
Fragen zur Zukunftsgestalt von regiolokaler Gemeinde
1. Die Frage nach der Perspektive
Steffen Bauer mahnt zurecht an: „Alle wissen, dass es nicht das eine Bild von Kirche gibt, aber viel zu wenig gibt es die Möglichkeit sich darüber auszutauschen, wie man die Entwicklung von Kirche gerade einschätzt, mit welchen eigenen Bildern man unterwegs ist. (…) Kirchenentwicklung ohne Austausch über Bilder aus der Zukunft von Kirche heraus, ist nicht denkbar.“35 Hieraus ergeben sich folgende Fragen: Wie kann Kirche über 2040 hinaus angesichts weniger Pfarrpersonen, weniger Gemeindeglieder und weniger Finanzen Kirche sein? Das heißt: Was bedeutet lokale Volkskirche, wenn das Volk die Kirche verlässt? Welche Chancen für die Zukunft ergeben sich aus der gegenwärtigen Gemeindeentwicklungsgeschichte? Welche Akzente der Vergangenheit können der Kirche helfen, sich in die Zukunft hinein zu entfalten? Was würde sie zerstören? Welche Transformationsprozesse verhindern eine „palliative Kirchenentwicklung“?
2. Die Frage nach dem spirituellen Auftrag
Spiritualität ist die Kernkompetenz der Kirche. Die Spiritualität eröffnet einen Glaubend-hoffend-liebenden Umgang mit Gott und der Realität.36 Aus ihr erwächst ein Wechselspiel aus Suchen und Finden in der ständigen Erwartung des in Jesus Christus entgegenkommenden Gottes, der das alltägliche Leben umarmt. Auf diese Weise wird Gottes Liebeswillen zum Herzschlag einer „Dia-logischen Kirche“37, in der der Logos die unterschiedlichsten Menschen miteinander verbindet und zur „Vorhut des eschatologischen Gottesvolkes“38 werden lässt.39
Von daher ist zu fragen: Wie sind der spirituelle Auftrag und die Ausdrucksform der Gemeinden aufeinander bezogen? Das heißt: Wie kann ein spiritueller Transformationsprozess geschehen? Wie können Menschen befähigt werden, nicht nur organisatorisch, sondern auch theologisch mitzuarbeiten? Wo und wie sind Menschen ansprechbar für das Evangelium? Wie können Gottesdienste zu einem die ganze Gemeinde umfassenden Geschehen werden? Wie können Kasualien und die Bildungsarbeit der Kirche mit dem spirituellen Leben der Gemeinde integriert werden? Wie können Gemeinden in den Schulen und Schulgottesdiensten spirituelle, lebensnahe Akzente setzen und wie können Angebote von Schule und Kirche und Weiterbildungsangebote miteinander vernetzt werden?
3. Die Frage nach der Gestalt
Teilhabe und Partizipation fördern Identität und Verantwortung. Die Verteilung der Macht auf viele Schultern sollte Anspruch evangelischer Identität im Sinne der biblischen Geistbegabung (vgl. 1. Kor 12) sein.40 Darum gilt es zu fragen: Wie kann die Gestalt der Gemeinde zum Ermöglichungsraum werden? Wie kann der „schlafende Riese“ des allgemeinen Priestertums geweckt werden? Das heißt: Wie wird aus einer Gruppe von Individualisten eine Gemeinschaft? Wie können Menschen an der Gemeindeentwicklung beteiligt werden? Wodurch können auch „wenig Verbundene“ in diesen Prozess einbezogen werden? Auf welche Weise können Menschen sich mit den Aufträgen der Gemeinde stärker identifizieren?
4. Die Frage nach der Befähigung
Die Handreichung „Zeit fürs Wesentliche“ betont: „Was den Ordinierten aufgetragen ist, ist im Wesentlichen nichts anderes als das, wozu jeder getaufte Christ [und jede getaufte Christin] beauftragt und bevollmächtigt ist: zu bezeugen und weiterzugeben, wodurch er [und sie] sein Leben im Glauben empfängt.“41 Hiermit werden das Amt und die Gemeinde untrennbar miteinander verbunden. Es geht also nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen, sondern vielmehr in der konkreten Situation zu klären, wie sie miteinander schöpferisch in Beziehung gesetzt werden können. Auf dem Hintergrund von Eph. 4,11f. erklärt die EKiR die Zurüstung der Gemeinde zur zentralen Aufgabe des Pfarrberufs.42 Daraus ergeben sich folgende Fragen: Welche Unterstützungsmechanismen braucht es, um Menschen zu befähigen, „die Botschaft von der Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“43? Welche Rolle kommt hierbei der Pfarrperson zu?44 Wie gelingt es, Räume zu schaffen, um die Kenntnisse und Fähigkeiten der Pfarrpersonen für die Region und die lokalen Kirchen zu nutzen? Wie kann durch die Pfarrpersonen die Befähigung von Laien im Kontext der Versorgung der Gemeinde bzw. der Region eingebunden werden?
5. Die Frage nach der Vernetzung und Ergänzung
In diesem Fragekomplex geht es um die sogenannte „Regio-Lokale Kirche“ die u.a. Steffen Bauer in diesem Zusammenhang ins Gespräch bringt45 und die hineinwirkt in das landeskirchliche Denken. Im Gegensatz zu dem ursprünglichen Begriff der „regiolokalen Kirchenentwicklung“ (RLKE) wirkt Bauers Formulierung statisch und somit leicht misszuverstehen als Synonym für konkrete Vorstellungen und Konzepte. Hans- Herman Pompe und Michael Herbst, die Wortschöpfer der RLKE erinnern zu Recht an das dynamische Geschehen, das dieser Formulierung zu Grunde liegt und schlagen vor von einer „regiolokal denkenden Kirche“, einem Prozess des gemeinsamen Suchens und Findens zu sprechen. Es geschieht im aufeinander Hören, gegenseitigen Ermutigen, Ausloten der Möglichkeiten und Erproben von strukturellen Veränderungen, in Solidarität miteinander und unter der Verheißung und im Auftrag Gottes, den Menschen vor Ort zu dienen.46 Unter dieser Perspektive gilt es, zu fragen: Wie können Gemeinden mit unterschiedlichen Charakteren und unterschiedlichen Organisationsformen sich in einer „Mixed Ecology“47 gegenseitig inspirieren? Wie können Vertrauen und Verantwortung ineinandergreifen? Wie gelingt Zusammenarbeit ohne Vereinnahmung? Was hilft, die unterschiedlichen Gestaltungsformen von Kirche in der Region nicht als Bedrohung oder Hindernis, sondern als Ergänzung und Chance wahrzunehmen?
6. Die Frage nach der kirchenrechtlichen Zukunftsgestalt von Kirche
Dabei muss im Blick sein, dass Rechtsentscheidungen Strategieentscheidungen sind. Sie können fördernd oder behindernd wirken. Eberhard Hauschildt formuliert es sehr treffend, wenn er betont: „Die konkrete Sozialgestalt der Kirche („Ordnung“) ist weder sakrosankt (Vgl.CA VII) noch glaubensneutral (vgl. Barmen III). Sie ist danach zu bewerten, wie sie in einer konkreten geschichtlichen Situation das geistliche Geschehen fördert oder behindert.“48
Auf diesem Hintergrund sind folgende Fragen zu stellen: Welche Ausführungen des Kirchenrechts brauchen wir, um die Wirklichkeit zu gestalten? Wie kann das Recht Freiheit atmen, ohne die Ordnung zu gefährden? Das heißt: Wie kann im „Geist“ der Kirchenordnung (KO) von der Zukunft her, ihre Ausgestaltung kritisch überprüft werden? Wie können KO und Lebensordnung die unterschiedlichen Gestaltungsformen, Leitungsstrukturen, Entwicklungsprozesse, Gottesdienstformate usw. fördern?
7. Die Frage nach einer zukunftsfähigen Verwaltung und Organisation
Es geht um einen Perspektivwandel: Statt zu überlegen, wie die heutigen Strukturen zu modifizieren sind, gilt es, von der Zukunft her eine Struktur zu entwickeln, die mit weniger Ressourcen auskommt. Es muss von daher gefragt werden: Wie könnte die Verwaltung und Organisation der Zukunft aussehen? Welche Schritte sind heute möglich, um Verwaltung und Organisation von der Zukunft her zu gestalten? Das heißt: Wie kann der Verwaltungsaufwand in der Gemeinde vor Ort und in der Verwaltung des Kirchenkreises reduziert werden? Wie wird die Organisation der Gemeinde ohne eine Pfarrperson nach innen und außen transparent gestaltet? Welche digitalen Möglichkeiten gibt es, um eine organisatorische Vernetzung zwischen den Mitarbeitenden der Gemeinde auf der einen Seite, der „Kerngemeinde“ und den weniger verbundenen Mitgliedern auf der anderen Seite, den Gemeinden untereinander und zuletzt zwischen der Gemeinde und der Verwaltung zu gestalten?
Antwortversuche
Zur Veranschaulichung und Inspiration sei an dieser Stelle auf die Antworten verwiesen, die sich in der Gemeinde Hochstraß im Verlauf eines vierjährigen Prozesses herausgebildet haben. Einzelne Schritte werden derzeit im Rahmen der geltenden Ordnung umgesetzt. Die Gemeinde erhofft sich, diesen Weg mit Unterstützung der Landeskirche auch als Gesamtkonzept erproben zu dürfen.
Zu 1. Die Perspektive: Den Mangel als Stärke nutzen
Mit dem Wegfall der Pfarrstelle in der Kirchengemeinde Hochstraß (2027) entfällt aufgrund des regionalen Pfarrstellenschlüssels die Präsenz einer einzelnen pfarramtlichen Person vor Ort. Die Gemeinde hat ihre Stärke in einer demokratischen, partizipatorischen und konsensorientierten Gemeindeentwicklung entwickelt. Perspektivisch versteht sich die Gemeinde als Ermöglichungsraum, in dem die Beteiligten Kirche im Raum des Evangeliums in vielfältiger Form gemeinsam gestalten.
Zu 2. Der Auftrag: Glaube und Leben teilen
Zahlreiche Ehrenamtliche sind in die unterschiedlichen gottesdienstlichen Formate einbezogen. So sind die Gottesdienste spirituelle Bindeglieder zwischen den Generationen und Gruppen in der Gemeinde und Institutionen (Gemeinde, Kindertagesstätte, Schule). Kasualien und Konfirmationsunterricht sind mit Angeboten vernetzt, in denen Gemeinde als Orientierungs-, Ermutigungs- und Trostort erlebt werden kann.49 Neben Gemeinschaftsaktionen, Glaubenskursen und Fortbildungsangeboten spielen darum spirituelle Kleingruppen eine große Rolle.
Zu 3. Die Gestalt: Partizipatorisch, demokratisch, situationsorientiert
In der Entwicklung dieses Weges wurde deutlich, dass es um fünf Gestaltungsebenen geht:
» Kommunikationsgestaltung: Ideen werden bereitgestellt und miteinander vernetzt. Es geht um zirkuläre, prozesshafte Kommunikation auf Augenhöhe, in der gerade auch Spannungen und Irritationen Raum bekommen. Es geht um das Öffnen des Denkens, des Willens und des Fühlens. Claus Otto Scharmer beschreibt eine gelungene Kommunikation wie folgt: Menschen neigen zunächst dazu, zu sagen, was erwartet wird. Allgemein akzeptierte Überzeugungen der Organisation werden „downgeloaded“. In einer zweiten Phase, in der sogenannten „Debatte“, fokussieren sich die Personen auf die Wahrnehmung der eigenen Positionen. In der dritten Phase finden die Personen hinein in ein dialogisches Erkunden der unterschiedlichen Standpunkte. Ans Ziel kommt eine Gruppe, wenn es ihr gelingt, hieraus in kollektiver Kreativität die Fragen und Antworten der Zukunft zu erspüren und in einem fließenden Lösungsweg zu entfalten.50 Diesen Weg will die Gemeinde gehen.
» Teamgestaltung: Intelligente Teams51 treten konsequent an die Stelle von Einzelpersonen. Sie addieren nicht nur ihre Gaben, indem sie sich die Aufgaben aufteilen, sondern multiplizieren ihre Fähigkeiten, indem sie ihre Begabungen miteinander vernetzen, sich so ergänzen und zusammen etwas Größeres schaffen als sie in der Summe ihrer Möglichkeiten erreichen könnten (vgl. 1. Kor. 12). Die Vernetzung führt zu einer verlässlicheren Erfüllung übertragener Aufgaben und entwickelt qualitativ hochwertigere Lösungen.
» Leitungsgestaltung: Die Presbyteriale Ordnung bleibt erhalten. Die Gemeinde wird klar und transparent durch das Presbyterium im Einklang mit der Ordnung, den Bekenntnissen sowie der DNA52 und dem Leitbild53 der Gemeinde geführt. Leitung geschieht prozesshaft und ergebnisoffen. Das ‚Herzstück‘ der Entwicklung sind öffentliche Gemeindeentwicklungstreffen, Gemeindeforen und Gemeindeversammlungen, in denen Ideen von der Basis her entdeckt, entwickelt und durch eine ausführliche Feedbackkultur reflektiert werden. Die Verantwortung gegenüber dem Superintendenten und der Landeskirche trägt das Presbyterium.
» Entwicklungsgestaltung: Der Eigeninitiative wird hier Raum gegeben. Die Teams treffen ihre Entscheidungen. Das Presbyterium hat auf die Entscheidungen keinen unmittelbaren Einfluss! Presbyterium und Ausschüsse haben die Aufgabe, Hindernisse aus dem Wege zu räumen und durch eine gute Feedbackkultur die Teams zu stärken. Es geht um Befähigung der Mitarbeitenden, statt um Kontrolle der Arbeit.54
» Umsetzungsgestaltung: Das ‚Prototyping‘ prägt die Entscheidungsfindung. Die Entwicklung einer Idee setzt sich zusammen aus dem Entdecken, Nachspüren (siehe Kommunikationsgestaltung) und dem Erproben des Entdeckten. Erst dann wird entschieden, ob und wie genau die Idee zum Angebot der Gemeinde werden kann.55 Denn solche Erprobungsphasen motivieren, stärken die Selbstwirksamkeit und führen zu tragfähigen Lösungen, denn auch aus Fehlern wird man klug.
Es geht um Befähigung der Mitarbeitenden, statt um Kontrolle der Arbeit.
Zu 4. Die Befähigung: Eph.4,11 als Unterstützungsmodell
Mit dem Wegfall der Pfarrperson vor Ort übernehmen andere Pfarrpersonen, sogenannte „theologische Pat:innen“, diese Aufgabe. Die Gemeindepfarrer:innen der Region springen für Prädikant:innen ein, wenn diese verhindert sind, und garantieren so eine verlässliche Kasualversorgung. Weitere theologische Pat:innen begleiten Leitungsteams sowie leitende Mitarbeitende. Außerdem unterstützen sie die ehrenamtlichen Mitarbeitenden bei der Gestaltung von Gottesdiensten. Die Begleitung erfolgt ehrenamtlich und basiert auf einer individuellen Vereinbarung, die sich an einer Handreichung für die Patenbegleitung orientiert. Vor diesem Hintergrund könnte man die Konzeption auch als „Gemeinde mit begleitenden Pfarrpersonen“ umschreiben.
Zu 5. Die Vernetzung: ‚Zusammen ist man weniger allein‘56
Die Gemeinde braucht die Pfarrpersonen der Region für eine verlässliche Kasualversorgung, da Ehrenamtliche auch anderweitig eingebunden sind. Auf der anderen Seite entlastet dieser Weg auch die Pfarrpersonen: Viele Aufgaben übernimmt nun die Gemeinde selber. Zudem ermutigt dieser Weg die Ehrenamtlichen anderer Gemeinden zu einem selbstwirksamen Handeln, nach dem Motto: „Wenn die das können, können wir das auch!“ und fördert sie gleichzeitig, indem sie die notwenigen Fortbildungen für die Region gezielt öffnet.
Zu 6. Die Rechtslage: Das Priestertum aller Gläubigen
Die Gemeinde nimmt Ihren Verkündigungsauftrag wahr, indem theologische Laien und bewährte ehrenamtliche Mitarbeitende die Bildungsarbeit in der Gemeinde anstelle von Pfarrpersonen gestalten und Gottesdienste im Wechsel mit auswärtigen Pfarrpersonen leiten. Die Arbeitsbereiche werden gefördert, unterstützt und begleitet von theologischen Pat:innen. Änderungen in der Gemeindearbeit, die von der KO noch nicht abgedeckt sind, werden mit den entsprechenden Ämtern der Landeskirche entwickelt.
Zu 7. Verwaltung und Organisation: Zentral, ökonomisch, transparent
Zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Verwaltung ist die Gemeinde an ein externes Verwaltungsamt angeschlossen. Die Verwaltung und Organisation in der Gemeinde zeichnen sich durch eine einfache und klare Struktur aus. Sie ermöglicht den Beteiligten, ihre Arbeit effizient zu gestalten. Die Grundlage bildet eine digitale Plattform, die datenschutzkonform Arbeitsabläufe zentralisiert, erleichtert und optimiert. So werden Mitarbeitende vernetzt und Angebote für Außenstehende jederzeit einsehbar.
Gemeinde ohne leitende Pfarrperson – geht das?
Wir wissen es nicht. Noch steht das Ergebnis aus. Was wir aber wissen ist: Es wäre verantwortungslos, es nicht für eine begrenzte Zeit zu wagen. Denn dieser Weg eröffnet nicht nur für die Gemeinde Moers-Hochstraß eine Zukunftsperspektive.
Ob eine langfristige Umsetzbarkeit dieses Konzepts möglich ist, gilt es abzuwarten. Vielleicht erfordert es Phasen der temporären Präsenz einer Pfarrperson für einige Wochen, Monate oder Jahre. Alternativ könnte das Modell im Rahmen einer pfarramtlichen Verbindung erprobt werden. Eine attraktive Möglichkeit wäre auch die Anstellung einzelner begabter Pfarrpersonen auf Kirchenkreisebene, die mit ihren unterschiedlichen Begabungen, Fähigkeiten und Kenntnissen die Gemeinden fördern, die auf diesem Weg unterwegs sind.
Wo auch immer wir diesen Weg – oder ist es nicht viel mehr eine Haltung? – eingeschlagen, ändert sich die Rolle der Pfarrperson. Statt die Gemeinde zu leiten und zu versorgen, wird sie diese befähigen und unterstützen. Weiterhin werden die Verantwortlichen auf allen Ebenen sensibilisiert, die Fähigkeiten und Möglichkeiten der einzelnen Gemeinden auszuloten und nach individuellen Lösungen zu suchen. Auf diese Weise werden wiederum die Gemeinden ermutigt, sich nicht auf den Mangel an Pfarrpersonen zu konzentrieren, sondern ihre Möglichkeiten zu entdecken und zu entwickeln. Das wäre ein wirklicher Fortschritt und würde dem „Kreator“ dieser Welt ein wenig mehr kreativen Raum in unserer Kirche eröffnen.
Damit solche Aufbrüche aber überhaupt eine Chance haben, wird entscheidend sein, ob der Entwicklungsprozess und der Umgang der Kirche mit solchen zunächst irritierenden, ja vielleicht sogar störenden Entwicklungen geprägt ist von einer „Kultur des Empowerments und des respektvollen und wertschätzenden Umgangs.“57
Uns bleiben zwei Möglichkeiten, nämlich entweder neue Erkenntnisse in traditionelle Denkmuster einzubauen. So füllen wir neuen Wein in alte Schläuche. Oder aber die Gelegenheit zu ergreifen, sich von der Zukunft inspirieren zu lassen und zu hoffen, ja zu vertrauen, dass Gott uns führt.
Es steht viel auf dem Spiel. Aber ein Zurück gibt es nicht mehr. Oder, um es mit Worten aus einem Gleichnis Jesu zu umschreiben58: Uns bleiben zwei Möglichkeiten, nämlich entweder neue Erkenntnisse in traditionelle Denkmuster einzubauen. So füllen wir neuen Wein in alte Schläuche. Oder aber die Gelegenheit zu ergreifen, sich von der Zukunft inspirieren zu lassen und zu hoffen, ja zu vertrauen, dass Gott uns führt. Wir werden neue Formen regional denkender Gemeinden entwickeln, wenn wir es zulassen. So wird es uns gelingen, den neuen Wein in neue Schläuche zu füllen zur Freude derer, die sich an ihrem Ort, in den Dörfern und Wohngebieten der Städte zum Feiern von Gottes Gegenwart treffen wollen.
1 Steffen Bauer, Landeskirchen unterwegs – Transformationsprozesse im Vergleich, Teil VIII, Januar 2025, 43. https://www.kirchedermenschen.de/post/landeskirchen-unterwegs [zuletzt abgerufen am 04.07.2025].
2 Der Erprobungsraum eröffnet ein Lernfeld stellvertretend für die Gesamtkirche. Vgl. auch: https://erprobungsraeume.ekir.de/ [zuletzt aufgerufen am 04.03.25].
3 Vgl. Michael Herbst, Hans-Herman Pompe, Wie Gemeinden vom Nebeneinander zum Miteinander kommen können, Berlin 2022, 4: www.mi-di.de/materialien/regiolokale-kirchenentwicklung [zuletzt aufgerufen am 04.04.25].
4 Vgl. Sabrina Müller, Transformational Leadership in: PrTh 59/2 (2024), S. 159-164, 164.
5 Vgl. Henry J.M. Nouwen, Seelsorge die aus dem Herzen kommt, Freiburg 1990, 57.
6 Tilmann Haberer, Kirche am Ende, Gütersloh 2023, 71.
7 Diese Frage stammt von dem weltweit einflussreichen Stadtplaner Charles Landry: The creative City. A Toolkit for Urban Innovators, 2nd ed., London, 2008, introduction xxxii. Die deutsche Übersetzung stammt von Hans Hermann Pompe, Brennpunkt Gemeinde 6, Neukirchen-Vluyn 2018; 11.
8 Hans-Hermann Pompe, ebd. 12.
9 Steffen Bauer, a.a.O., 36f.
10 Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen; in: Martin Luther, von der Freiheit eines Christenmenschen, Hamburg 31974, 172; Erstmals kommt dieser Gedanke vor in „De captivitate Babylonica ecclesiae Praeludium“ von 1520, WA 563ff.
11 WA 6, 408, 11f.; vgl. Peter Zimmerling, Vorlesung: Pastoraltheologie, Kap. IV. Theologische Grundlagen, Universität Leipzig [keine Seitenzahl vorhanden].
12 WA 6, 371, 22f.
13 1. Kor.4,1: „Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse.“ Lutherbibel 2017.
14 Vgl. Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen; Calwer Luther Ausgabe 2, 173; Vgl. Peter Zimmerling, a.a.O.
15 WA 49, 212, 25–27
16 Ferdinand Isigkeit, 450 Jahre Reformation in Homberg und Essenberg-Hochheide, erschienen im Gemeindebrief „EinBlick“, Essenberg-Hochheide, Nr. 183; 22
17 Vgl. Confessio Augustana (CA 14) Vgl. https://www.ekd.de/Augsburger-Bekenntnis-13454.htm [zuletzt aufgerufen am 03.3.25]. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, dass die Formulierung „allgemeines Priestertum“ in der CA nicht vorkommt.
18 Peter Zimmerling, a.a.O.
19 Peter Zimmerling, a.a.O.
20 Fresh-X Projekte sind „neue Ausdrucksformen von Kirche“, die neben den traditionellen Gemeinden entstehen. Vgl. https://freshexpressions.de/fresh-x-netzwerk/was-ist-fresh-x/ [zuletzt aufgerufen am 03.3.25].
21 Vgl. Barmen VI: „Jesus Christus spricht: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ (Mt 28,20); „Gottes Wort ist nicht gebunden.“ (2Tim 2,9); Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen.“ Vgl. auch Barmen IV: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.“ EKD, Barmer Theologische Erklärung (www.ekd.de/Barmer-Theologische-Erklarung-Thesen-11296.htm (22.02.2022) [zuletzt aufgerufen am 04.03.25].
22 Sabrina Müller, Amt und Charisma; in Stefan Krauter, Matthias D. Wüthrich, Ordination. Grundfragen und Impulse aus reformierter Perspektive. Zürich 2023, 91.
23 Vgl. Sabrina Müller, a.a.O., 91.
24 In Art.I.3.1 wird festgehalten, dass die Leitung und Verkündigung in der Verantwortung der Ordinierten liegt. Die Durchführung der Verkündigung und die Leitung von Gottesdiensten wird jedoch nicht an das Amt gebunden.
Indem Predigten und Kanzelreden durch Ehrenamtliche der Zustimmung des Presbyteriums (vgl. Art. I.3.4) und die Leitung eines Gottesdienstes gar der Zustimmung des Superintendenten bedarf (vgl. Art. I.3.2), wird diese Freiheit zur Verkündigung zurückgenommen. Die in Art. I.3.3 gewünschte Mitgestaltung des Gottesdienstes durch Ehrenamtliche bleibt so letztendlich nebulös und praxisfern. Vgl. https://www.kirchenrecht-ekir.de/document/3059#s20000069 [zuletzt aufgerufen am 04.03.25].
25 Vgl. E.K.I.R. 2030 – Wir gestalten „evangelisch rheinisch“ zukunftsfähig. Ein Positionspapier der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland, 7: „Unsere Gemeinden sind als geistliche, kreative Gemeinschaften attraktiv für engagierte Menschen vor Ort“.
26 Sabrina Müller, a.a.O., 92.
27 A.a.O., 93 u.ö.
28 A.a.O., 94.
29 Mt. 28,19a: „Durch Hingehen nehmt alle Völker in die Jüngerschaft hinein (griech.: mathäteusate).“ Nach der Übersetzung von Christiane v. Boehn, in: Christiane von Boehn, Neukirchner Bibel. Die Evangelien. Übersetzt und erklärt, Neukirchen-Vluyn 2019,133.
30 D.h. das Vertrauen zu Gott war nicht Voraussetzung für die Mitarbeit, sondern häufig die Vorbereitung für behutsame Vertrauensschritte hinein in eine Gottesbeziehung. Vgl. Felix Klingenbeck, Believing and belonging, 19.09.2024: https://www.pfarrblattbern.ch/de/artikel/believing-and-belonging [zuletzt aufgerufen am 03.3.25].
31 Vgl. das Leitbild der Gemeinde. https://www.evk-hochstrass.de/leitbild/ [zuletzt aufgerufen am 03.3.25].
32 Presbyterium, Pflichtausschüsse, Gottesdienste, Konfirmandenunterricht und Kasualien, wobei auch hier gezielt Menschen ermutigt wurden, die die entsprechenden Kenntnisse, Fähigkeiten und Möglichkeiten hatten.
33 Die vier Fragen bilden einen „Wirkungskreis der Inspiration“, den es immer wieder neu zu begehen ist. Die Fragen gehen auf die vier Ebenen, bzw. Dimensionen von Spiritualität zurück, die Willi Lambert im Kontext der Exerzitien des Ignatius von Loyola formuliert. Vgl. Willi Lambert, Gotteskontakt. Leben und Beten mit den Exerzitien des Ignatius von Loyola, Würzburg 2014, 28.
34 Vgl. die Gemeinde DNA in: https://www.evk-hochstrass.de/wp-content/uploads/evkhochstrass_GemeindeDNA_V1.1_20201228.pdf [zuletzt aufgerufen am 03.3.25].
35 Steffen Bauer, a.a.O, 34.
36 vgl. Willi Lambert, a.a.O.20 und 26, vgl. erste Frage des Heidelberger Katechismus https://www.ekd.de/Heidelber-Katechismus-erste-und-zweite-Frage-13500.htm [zuletzt aufgerufen am 03.03.24].
37 Vgl. Hierzu auch Willi Lambert, ebd. 109.
38 Hanna Stetller, Pfarramt im Wandel- aus neutestamentlicher Sicht betrachtet, in: TheolBeitr 2024-02, 103; Vergleiche das Leitbild der Gemeinde: https://www.evk-hochstrass.de/leitbild/ [zuletzt aufgerufen am 03.03.24].
39 Vgl. Das Gleichnis von den verlorenen Söhnen bringt die Akzente christlicher Spiritualität anschaulich auf den Punkt. (Vgl. Lk. 15,20ff)
40 Vgl. Steffen Bauer: Grundlegende Transformation, in: Philipp Elhaus, Uta Pohl-Patalong: Fluide Formen von Kirche. Dienste, Werke und Einrichtungen in Gesellschaft und Kirche des 21. Jahrhunderts, Stuttgart 2024, 179ff. Vgl. auch die Problemanzeige von Martin Bock und Markus Herzberg in der EKiR in „Partizipative Kirche werden“, 16.
41 Vgl. Zeit fürs Wesentliche, Handreichung der EKiR, 11ff.
42 Vgl. Zeit fürs Wesentliche Handreichung der EKiR, 13.
43 Barmen 6, www.ekd.de/Barmer-Theologische-Erklarung-Thesen-11296.htm , [zuletzt aufgerufen am 04.03.25].
44 Die Landessynode hat die Partizipation von Ehrenamtlichen dem Pfarramt als „konstitutive Aufgabe“ („Gewinnung, Befähigung und Begleitung“) zugewiesen. Vgl. Volker Lehnert, Partizipative Kirche werden, 14 in: https://landessynode.ekir.de/wp-content/uploads/sites/2/2021/01/Partizipative-Kirche-werden.pdf [zuletzt aufgerufen am 03.3.25].
45 Steffen Bauer, Landeskirchen unterwegs – Transformationsprozesse im Vergleich, Teil VIII, Januar 2025, 43.
46 Hans-Hermann Pompe, Georg Ottmar, DNA regiolokaler Kirchenentwicklung in: Patrick Todjeras, Michael Herbst, Bernhard Schröder (Hrsg.), regiolokal. Als Kirche aufblühen und zusammenwachsen, Leipzig 2026
47 https://mixed-ecology.ekir.de/; vgl. Birger Falcke ermutigt zu Recht: „Lassen wir uns als Kirche vom Mischwald inspirieren“. Es gehe „um Ermöglichung, um einen Kulturwandel …“ in: synode.info 2025, https://mediencenter.ekir.de/resource/A/93929 [zuletzt aufgerufen am 04.03.25].
48 Vgl. in: Neue Gemeinde Formen – Hearing, Wuppertal 2029, 10. Vizepräses Petra Bosse Huber formuliert aus diesem Gedanken heraus die Frage: Wie übersetzten wir die Milieutheorien in unsere Ekklesiologie und unseren praktischen Gemeindeaufbau? A.a.O. 31
49 Vgl. Zur Mitgliederorientierung: E.K.I.R. 2030 – Wir gestalten „evangelisch rheinisch“ zukunftsfähig, Ein Positionspapier der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland, 9 in: https://mediencenter.ekir.de/A/Medienpool/92357?encoding=UTF-8 [zuletzt aufgerufen am 04.03.25].
50 Vgl. Claus Otto Scharmer, Theorie U, Heidelberg 42015, 67–69. Otto Scharmer nennt diesen Vorgang „presencing“. Eine engl. Wortschöpfung aus „sensing“ (fühlen, erspüren) und presence (anwesend sein, auftreten). Vgl. ebd. 236.
51 Vgl. Tobias v. Boehn, Im Team leiten, Glashütten 2014,7ff.
52 https://www.evk-hochstrass.de/wp-content/uploads/evkhochstrass_GemeindeDNA_V1.1_20201228.pdf [zuletzt aufgerufen am 02.04.25]
53 https://www.evk-hochstrass.de/leitbild/ [zuletzt aufgerufen am 02.04.25]
54 Die Gemeinde arbeitet nach der DSO „Dynamic Shared Ownership“ Methode: Einen kurzen Einblick in die Beschreibung der Methode geben die Bayer Werke, auf ihrer Homepage: Vgl. https://www.bayer.com/de/de/dynamic-shared-ownership [zuletzt aufgerufen am 03.03.25].
55 Vgl. Claus Otto Scharmer, a.a.O., 127ff.
56 Titel des Romans von Anna Gavalda aus dem Jahr 2004.
57 Sabrina Müller, „Empowerment“ – Ehrenamt und Hauptamt in der Kirche der Gegenwart und Zukunft, https://www.youtube.com/watch?v=C7Weq2Ax27A bei Minute 8:40 [zuletzt aufgerufen am 13.03.25];
Hans Herman Pompe und Michael Herbst formulieren mit Nachdruck, wenn sie schreiben: „Es muss doch möglich sein, Lokalität und Regionalität zu versöhnen! Muss denn wirklich das Entstehen regionaler kirchlicher Gestaltungsräume das Ende der lokalen Gemeinschaft von Christen sein?“ (Michael Herbst, Hans- Herman Pompe in: Vertrauen und Verantwortung, Berlin 2023, 14).
58 Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche, sonst zerreißt der Wein die Schläuche, und der Wein ist verloren und die Schläuche auch; sondern man füllt neuen Wein in neue Schläuche (Mk. 2, 22, Lutherbibel 2017).
Dieser Artikel erschien zuerst beim Basecamp-Magazin.