In den vergangenen Jahren gab es einiges an Aufbruch: Lerngemeinschaften, Kongresse, Erprobungsräume, Förderformen, Fortbildungen. Die Frage nach kirchlicher Zukunft jenseits der Fortsetzung des Ist-Zustandes war plötzlich auf vielen Tagesordnungen zu lesen und hat dazu geführt, dass irgendwie eine Bewegung entstanden ist. Pionier:innen haben sich gezeigt und ermutigt gefühlt. Andere haben Aufbruchsgefühle als ganz neue Begabung unter langanhaltenden Fremdheitserfahrungen entdeckt. Etwas geriet in Fluss, ohne dass schon abzusehen wäre, wohin dieser führt. Eine neue, noch zarte und anfängliche Freiheit zum Experimentieren und Suchen begann. Eine Suche nach neuen Formen von Kirche, die an der Seite alles dessen, was bewährt ist, die Diversität von Kirche in einer diversen Gesellschaft stärken.
Worte, Haltungen und Taten
Es gibt einen Paralleleffekt. Leider und ganz typisch für alte und ehrwürdige Institutionen: Begriffe werden übernommen und verlieren ihre Kraft. Die Haltung, die Kultur hinter verändernden Aufbrüchen wird auf Vokabeln reduziert. Die sind dann neue Bezeichnungen für eine weitgehend unveränderte, großkirchliche Praxis. „Missionarisch“, „diakonisch“, „innovativ“, „Zukunft“ teilen das Schicksal von „das machen wir schon längst“ und „das haben wir schon immer so gemacht“. „Sozialräumlich“ steht schon kurz davor. Damit Kirche sich nicht auf einzelne Vokabeln reduziert, deren Strahlkraft und Veränderungswillen unter kleinen Modernisierungen und Bestandswahrung verloren gehen, sind sowohl kirchliche als auch gesellschaftliche Institutionen zu weitreichenden Transformationen gefordert. Es darf nicht nur eine neue Sprache entstehen, es muss eine neue Kultur ermöglicht werden. Es braucht neue Formen, neue Gemeinschaften, die anders funktionieren, reden und wirken als die, die wir kennen und oft auch liebhaben, weil sie uns Sicherheit vermitteln.
Der Transformation begegnen, bedeutet, sich ganz neu des eigenen Kerns zu vergewissern und dann mit diesem Blickwinkel forschend auf die Suche zu gehen: Worin zeigt sich Gottes Wirken? Wie begegnen wir Nöten elementarer als mit der Erfindung des nächsten diakonischen Arbeitsfeldes? Was finden wir heraus über die (spirituellen) Bedürfnisses junger Menschen, wenn wir aufhören anzunehmen, dass Kirche per se die Antwort schon kennt (oder schlimmer: ist)?
Es gibt gute Gründe zu vermuten, dass unsere Kirchen sehr viel diverser, sehr viel ent-strukturierter, sehr viel un-hierarchischer werden müssen, dass intensive Beziehungen und tiefes Erleben neue Anknüpfungen erlauben. Untereinander und miteinander – ohne das Vermitteln durch Hauptamtliche oder frontale Veranstaltungen. In einer etwas flüchtigen Welt braucht es keine verbissene Festigkeit, sondern ehrliche Transparenz und liebevolle Beweglichkeit, vielleicht sollte ich sagen: Lebendigkeit. Netzwerke oder Schwärme funktionieren anders als das, was wir kennen und zu organisieren und gut zu finden gewohnt sind.
Ein Neuanfang
All das ist nicht neu. Man kann das wissen. Weil es die Aufbrüche gab und gibt. Die ökumenischen Lerngemeinschaften, Kirche-hoch-zwei, Fresh X, Kongresse und Erprobungsräume und viele, viele gute Fortbildungen. Wir spüren an etlichen Stellen, dass „das Feuer“ sich nicht so ausbreitet, wie es verdient hätte. Ich habe keine Lösung, teile aber gerne eine Erfahrung, die mich und andere auf eine Spur gesetzt hat.
Fast zwei Jahre haben wir ökumenisch nach Formen gesucht, wie wir Innovation und Kirchenentwicklung in den niedersächsischen Kirchen (wieder intensiver) teilen können. „Ökumenisches Netzwerk Kirchenentwicklung“ – der Titel war schnell da. Regionale Netzwerke unterstützen, die einander in guter Nachbarschaft und Kooperation helfen, kirchlich Neues in die Welt zu bringen – das sollte es sein.
Aber wie? Kongress? Fortbildung? Treffen? Gremium?
Gibt es alles schon. Wir können es auch nicht besser. Und überhaupt …
Und dann, eher aus Ratlosigkeit als aus Überzeugung: Ein Barcamp soll es sein. Das neue Netzwerk soll damit ans Licht treten. Nur ein einziges würden wir als Gruppe organisieren und ausschreiben. Eine klassische „Unkonferenz“: Die Teilnehmer:innen sind die Teilgeber:innen und geben so der Konferenz Themen und Kultur. Wenn genügend Leute zusammenkommen, finden Sessions statt. Als kleiner Workshop, als Input, als offene Frage, als Arbeitsgruppe. Ganz egal. 45 Minuten Zeit. Am Ende steht eine visuelle Dokumentation mit der Möglichkeit, weiter Kontakt zu halten.
Rund 55 Menschen aus unterschiedlichen kirchlichen Hintergründen waren Anfang März 24 Stunden in Bremen zusammen. Und es kristallisierte sich heraus: Es geht weiter, genau in dieser Form. Das „Ökumenische Netzwerk Kirchenentwicklung im Norden“ tritt ins Leben und lebt in einer Form des Immer-wieder-neu-Zusammenkommens. Dadurch bleibt es variabel und divers. Hoffentlich. Ich bin angeregt und aufgeregt aus Bremen weggefahren.
Seither beschäftigt mich die Frage, ob der weitere Weg der Kirchenentwicklung, des Fresh X-Seins und -Werdens nicht genauso in unsere Kirchen hineindiffundieren wird: Eine neue Kultur schaffen und leben. Eine Kultur, die von diverser Gleichrangigkeit geprägt ist, in der viele an Lösungen arbeiten, die vom Testen und Ausprobieren und Weiterentwickeln lebt und die nicht von politischem Kalkül und Ordnungsstrukturen bestimmt wird. Eine Kultur, die das Dazwischen lebendig werden lässt und Veränderung in Gemeinschaft liebt.
Viele der sogenannten „Peer-to-peer“-Lernverfahren tragen diesen Geist: Wissen und Neugier bereitwillig für die gemeinsame Suche bereitstellen, die Blickwinkel verbinden. Und es schafft Raum für den Gottesgeist, die Ruach, die Neues formt und ins Leben trägt. In ein neues Leben. Und wahrscheinlich ist genau deshalb jetzt die Zeit für neue Netzwerke und eine netzwerkartige Kirche.
P.S. Anspieltipp „Der wichtigste Finger einer Faust“ von Jupiter Jones.
P.P.S. Die gewieftesten Praktiker:innen in Sachen P2P-Lernen sind die Leute vom OER-Camp; die nehmen das mit dem Wissenteilen richtig ernst. Auf ihrer Website findet sich ordentlich viel Material zur Orga von Selbstlerngelegenheiten und -formaten.