Ein Nachruf auf den Arbeiterpriester Christian Herwartz
Am 20. Februar ist der Jesuitenpater und Arbeiterpriester Christian Herwartz gestorben. Der Tod kam für viele unerwartet. Für ihn selbst wohl nicht.
Einige Wochen vor seinem Tod hatte Christian Herwartz einen Text verfasst, der während des Trauergottesdienstes am 7. März vorgelesen wurde:
„Danke. Du Tod, Sprung ins Leben. Du kündigst Dich an. Du bist die abschließende Freude. Ich danke Dir für Dein Kommen.“ (Mitschrift aus dem Requiem).
Diese angstfreie Haltung dem Tod gegenüber hat den Jesuitenpater schon im Leben frei gemacht. Und mit seiner Freiheit hat er zahllose Menschen angesteckt, die ihm begegnet sind.
Größere Bekanntheit erreichte Herwartz mit den Straßenexerzitien. Er wurde gelegentlich als ihr Erfinder bezeichnet. Doch das stimmt nicht. Er war ihr Finder. Die Straßenexerzitien sind zu ihm gekommen. Sein Beitrag bestand darin, Augen und Ohren für das zu haben, was passierte und sich darauf einzulassen.
Radikale Gastfreundschaft
Die Welt von Christian Herwartz war ein Leben an den Rändern. Nach dem Studium der Philosophie und der Theologie machte er eine Ausbildung zum Dreher. Er arbeitete in der Fabrik, als Lagerist und nahm auch eine Zeit der Erwerbslosigkeit hin. Bei allem widmete er sich den Menschen, die ihm begegneten. Egal wer, egal woher. Er setzte sich für Obdachlose ein, betete jahrelang mit anderen vor dem Abschiebegefängnis in Berlin-Köpenick, initiierte und beteiligte sich an Mahnwachen und dem internationalen Friedensgebet; manchmal schlief er dazu auf der Straße.
Die Sprache der Straße
Viele Jahre lebte der Arbeiterpriester in einer Wohngemeinschaft in Kreuzberg, die aufnahm, wer an die Tür klopfte. Eines Tages meldete sich ein katholischer Priester, der Exerzitien machen wollte, geistliche Übungen. Da es keine Kapelle für das Schweigen und keinen Rückzugsraum in der WG gab, wurde die Straße zum Übungsraum. Abends berichtete der Gast von seinen Erlebnissen, die er schweigend auf den Straßen Berlins hatte. Und die Mitbewohner erlebten zum ersten Mal das, was Herwartz später die „Sprache der Straße“ nannte. Erlebnisse, die auf das Leben und Gott hin gedeutet werden.
Was sind Straßenexerzitien?
In aller Kürze erklärt: Exerzitien auf der Straße sind ein geistlicher Übungsweg. Die Übenden gehen mit einer Frage, aber ohne Ziel und möglichst ohne Sicherheiten wie Geld oder Handy auf die Straße. Lassen sich ansprechen und leiten von Bildern, Eindrücken, Menschen, Wahrnehmungen – was auch immer kommt. Am Abend gibt es einen Austausch über das Erlebte. Und dort passiert oft das Wunderbare: Im Austausch wird offenbar, welche Botschaften das Leben selbst präsentiert. Christian Herwartz sagte einmal, er sei regelrecht süchtig nach diesen Geschichten. Weitere Informationen dazu gibt es auf der Internetseite der Straßenexerzitien.
Loyal und radikal
Im Mai 2019 hatten Teilnehmende der Pionierfortbildung der CVJM-Hochschule die Gelegenheit, sich einen Tag lang von Christian Herwartz in die Exerzitien und die Straßen Berlins einführen zu lassen. Nach dem Austausch am Ende des Tages holte er aus seiner Tasche eine zerknitterte Plastiktüte heraus, in der sich ein paar Scheiben schon etwas trockenes Schwarzbrot befanden. Er ließ es austeilen. Von der jüngsten Teilnehmerin.
Und schon war die Gruppe mittendrin in dem, was der katholische Priester Christian Herwartz offiziell gar nicht durfte: in einem gemeinsamen Abendmahl von Christen aller möglichen Couleur.
Herwartz redete nicht drüber, er machte einfach. Und im Tun passierte der Gottesdienst. Während sich hochgebildete Theologen seit Jahrhunderten in Abgrenzungsdebatten verlieren, reichte dem Arbeiterpriester ein Beutel altes Schwarzbrot, um all das zu überwinden. Darin spiegelt sich eine Haltung, die beides ist: loyal und radikal.
Über alle Grenzen
Seinen Glauben an den lebendigen Gott äußerte Christian Herwartz in unbedingter Solidarität mit allen Menschen. Mit allen Menschen hieß, über alle Grenzen hinweg – auch die religiösen und dogmatischen Grenzen.
Auf dem Requiem, der Trauermesse für Christian Herwartz, sprach und sang ein langjähriger Gefährte Zeilen aus den Upanishaden, zunächst auf Deutsch, dann auf Sanskrit:
„Ihn haben wir gekannt, den verehrungswürdigen Gott, er ist die souveräne Gottheit aller Gottheiten. Er ist das erhabene Sein, allen Seins. Er ist der höchste König, der über alle anderen königlichen Naturen hinausragt. Diese Gottheit, die sich in allen Aktivitäten dieser Welt zeigt, lebt als erhabene Seele ewig im Herzen der Menschen.“ (Nachzuhören auf Youtube ab Minute 21.)