Herr Lechner, Sie sind bei midi angestellt als Referent für Sozialraumorientierung in Diakonie und Kirche. Erklären Sie doch bitte einmal, was genau ist ein Sozialraum und wie muss man sich die (diakonische) Arbeit im Sozialraum vorstellen?
Walter Lechner: Sozialraum ist im Prinzip das Lebensumfeld von Menschen. Das heißt, der Bereich, von dem die Leute sagen: Hier kenne ich mich aus, hier finde ich mich zurecht, das ist meine Nachbarschaft. Es ist das Umfeld, in dem ich zu Hause bin: mein Dorf, mein Stadtteil, mein Kiez oder – wenn es eine ganz kleine Stadt ist – auch meine Stadt. Der mit sozialem Leben gefüllte Raum. Oft wird der Begriff Sozialraum aber auch politisch genutzt, als kleinste Gliederungseinheit von Großstädten, um Quartiere zu definieren. Im Idealfall fällt beides zusammen. Erstmal aber ist der Sozialraum etwas, was von unten organisch wächst. Es geht nicht in erster Linie um eine geografische Einheit oder um etwas, dass sich in Quadratmetern bemisst, sondern es ist ein Netzwerk, das sich über die sozialen Beziehungen, die da drin passieren, definiert.
Gibt es eine Mindestmenge an sozialen Beziehungen, die in einem Sozialraum stattfinden müssen? Ab wann genau spricht man von Sozialraum? Ist da das Mehrfamilienhaus oder das Unternehmen inbegriffen?
Walter Lechner: Sozialraum kann ganz vieles sein. Ja, das kann auch die Betriebskantine sein. Aber wenn man über Sozialraumorientierung spricht, redet man darüber, dass verschiedene Akteur:innen in dem Sozialraum zusammenarbeiten und – ganz biblisch gesprochen – des Kiezes, der Stadt, des Quartiers Bestes suchen. Um den Begriff Sozialraumorientierung wirklich mit Leben zu füllen, braucht es verschiedene Player. Ich würde sagen, dass das Wohnhaus zu wenig ist. Das ist sicherlich ein Raum, der von sozialen Beziehungen erfüllt ist, aber um Sozialraumorientierung zu leben, braucht es ein paar zivilgesellschaftliche Akteur:innen, die sich vernetzen, die miteinander etwas auf die Beine stellen. Das kann jedoch in einem größeren Wohnblock passieren, in dem verschiedene Player gemeinsam aktiv sind. Das können Vereine sein, das kann ein Quartiersmanagement sein, das können Initiativen oder Geschäfte sein, das können Wirtschaftsbetriebe sein – das kann natürlich auch Kirche und Diakonie sein, im Idealfall. Uns als Kirche oder Diakonie prädestiniert dafür, dass wir meistens in diesen Bereichen sowieso unterwegs sind und ein natürliches Gefühl mitbringen (könnten), was Sozialraum eigentlich ist, ein organisch gewachsenes Gefühl für soziale Zusammenhänge.
Inwiefern unterscheidet sich denn dann die Arbeit im Sozialraum von der Quartiersentwicklung?
Walter Lechner: Quartiersentwicklung kann generalstabsmäßig auf kommunaler Ebene beschlossen und installiert werden. Man eröffnet ein Quartiersbüro, macht einen Plan, stellt Leute an. Das kann natürlich Teil von sozialraumorientierter Arbeit sein – ist es oft auch – aber grundsätzlich ist die Sozialraumorientierung etwas, was von unten kommt. Eine Graswurzelbewegung. Bottom up. Nicht top down. Es gibt viele Überschneidungen mit dem Quartiersmanagement, aber im Kern geht es mehr um Selbstermächtigungsprozesse, darum, dass die Ressourcen von Menschen und dem Sozialraum zum Tragen kommen, sodass Eigeninitiative entstehen kann. Ich würde sagen, Quartiersarbeit und Quartiersentwicklung kann nicht ohne Sozialraumorientierung funktionieren, aber sozialraumorientiertes Engagement kann passieren, ohne dass es ein geordnetes Quartiersmanagement gibt oder eine planmäßige kommunale Quartiersstrategie.
Okay. Dann kommen wir zur nächsten Differenzierung: Wie verhält es sich mit Sozialraum und Diakonie?
Walter Lechner: Das ist wirklich komplex. Erstmal: Diakonie ist eine Wesensäußerung, ein Charakterzug von Kirche und etwas, was für Kirche steht. Es hat natürlich viel mit Nächstenliebe und Dienst am Nächsten zu tun. In der langen Traditionsgeschichte sehen wir, dass Diakonie an vielen zentralen Stellen sozialraumorientiert aufgestellt war und ist, ohne das immer so zu nennen. Wenn wir uns die Strategie der Diakonie Deutschland bis 2025 anschauen, gibt es die ausdrückliche Zielstellung und oft auch schon die gelebte Praxis, dass diakonische Arbeit sozialraumorientiert ist. Sozialraumorientierung als Haltung hat in Kirche und Diakonie eine lange Tradition: Zum einen in der Gemeindediakonie. Es gibt also nicht nur die verfasste, professionalisierte Diakonie, sondern auch Gemeinden sind für andere da und machen mit der Diakonie zusammen soziale Arbeit. Dann gibt es noch als Weiterentwicklung die Gemeinwesendiakonie, die bis heute eine ganz große Rolle spielt und an ganz vielen Stellen eine hohe Überschneidung mit Sozialraumorientierung hat. Da wie dort geht es darum, mit anderen Partnern zusammen als Diakonie und Kirche für das Gemeinwesen Verantwortung übernehmen, und darum, diese Versäulung aufzubrechen, hier ist die Fürsorge für Menschen mit Behinderungen, hier die Arbeit für Menschen mit geringem Einkommen, hier die Hilfe für Menschen mit Migrationsgeschichte. Durch eine Vernetzung der einzelnen Akteure und Betreuungs- und Fürsorgesysteme, durch engen und regen Austausch entsteht nicht zuletzt auch ein ganzheitlicher Blick auf die Menschen, mit denen man arbeitet. Das Credo lautet nicht länger: Wir wollen etwas für Menschen machen, wollen Kirche für andere sein, sondern verändert sich zu: Wir gestalten Kirche miteinander und leben Diakonie mit anderen. Wir entwickeln das, was das Gemeinwesen voranbringt, zusammen mit den Menschen – auch mit den „Betroffenen“. Weg von der Betreuung, hin zur Eigenermächtigung und Eigeninitiative.
Was sind die wichtigsten Merkmale von sozialraumorientierter Arbeit?
Walter Lechner: Sozialraumorientierte Arbeit braucht zunächst einmal Zeit. Das zweite ist: Wir fangen nie bei null an. Kirche und Diakonie sind immer schon im Sozialraum aktiv und vernetzt mit anderen. Das Dritte ist – und das entlastet auch wiederum unglaublich: Wir müssen nicht alles selber machen. Es geht um eine veränderte Grundhaltung. Nicht mehr die Kirchengemeinde muss alle Fragen, Sorgen und Nöte allein aufgreifen und bedienen. Oder die Diakonie muss alleine diese und jene Hilfen bereitstellen. Auch andere Partner und Akteure im Netzwerk können Dinge gut und ihre Stärken einbringen. Bei denen können sich Kirche und Diakonie einklinken und ihre Stärken mit einbringen – müssen es eben aber nicht allein abdecken. Es braucht erstmal ein Investment an Zeit und Ressourcen, aber gleichzeitig gibt es dann potentiell auch einen immensen Entlastungseffekt, weil wir nicht allein dastehen. Weil man gemeinsam den Sozialraum verbessern kann.
Als Organisation, z. B. als Kirchengemeinde, sind drei Faktoren ganz entscheidend für eine sozialraumorientierte Haltung: neugierig, extrovertiert und auf Augenhöhe. Und witzigerweise treffen alle drei Faktoren auch auf Gott zu: Gott ist unglaublich neugierig auf uns Menschen und will in unsere Lebenswelt eintauchen. Er ist extrovertiert, er ist beziehungsorientiert, er bleibt nicht für sich, das ist in der Trinität schon so angelegt, er möchte nach außen dringen und andere mit einbeziehen. Und er ist auf Augenhöhe, wie man an der Menschwerdung sieht. Das ist auch Fresh X in Reinform: Wir werden wie Gott Teil eines konkreten Kontextes, tauchen ein und nehmen uns ernst als Teil davon. Wir machen nie Sozialraumarbeit zusätzlich. Genauso wie wir nicht nicht kommunizieren können, können wir auch nicht nicht im Sozialraum unterwegs sein als Kirche. Aber es liegt nun an uns, das bewusst wahrzunehmen und zu gestalten. Auf Augenhöhe. Wir nehmen wahr, dass wir nichts besser können als andere, dass wir Teil von etwas sind und dass wir das, was wir gut können, mit einbringen können, aber auch von anderen lernen oder profitieren. Als eine Partnerin unter vielen.