inspiriert

Brauchen wir Fresh X?

29. Juni

Fresh X spricht Menschen an, die eine heilige Unruhe verspüren und Ideen in sich tragen, wie das Evangelium kreativ in postmoderne Kontexte inkulturiert werden kann. Das Fresh X-Netzwerk ist eine Community von Pionier*innen, die ihre Komfortzone verlassen und etwas Neues starten wollen. Dabei entstehen neue, vielfältige Kirchengestalten. Aber Fresh X drohen in eine gefährliche Schieflage zu geraten, wenn sie ihre Identität auf Kosten des Althergebrachten herleiten. Die Fresh X-Bewegung ist nicht angetreten, um die Parochien abzulösen – vielmehr um sie zu ergänzen sie und mit ihnen zu interagieren. Es braucht Stabilität und Flexibilität gleichermaßen.

Die deutsche Übersetzung von Michael Moynagh’s Grundlagenwerk trägt zwar den Titel „Fresh Expressions of Church“, aber das englische Original heißt: „Church for every Context“. Und genau darum geht es im Kern: Wie können wir am besten Evangelium in den vielfältigen Lebenswelten unserer Gesellschaft leben? Welche Formen von Kirche sind dem jeweiligen Kontext angemessen? Die Anglikanische Kirche hat gelernt ein Ökosystem zu schaffen, in dem Vielfalt gedeiht und die Fähigkeit zur Selbststeuerung wächst, wie es Netzwerken genuin zu Eigen ist. Aber die über Jahrhunderte gewachsenen Ortsgemeinden sind nicht weg und erweisen sich mitunter als erstaunlich vital – gerade dort, wo sie Fresh X nicht als Bedrohung auffassen, sondern Impulse aus der Fresh X-Bewegung aufgreifen.

Fresh X erschöpft sich also nicht in der Entstehung kirchlicher Startups. Vielmehr sind Fresh X eingebettet in das übergreifende Thema ´Mixed Ecology` – zu deutsch etwa: Kirchliche Biodiversität. Wir erleben als Folge des Klimawandels, dass in Deutschland mittlerweile jeden Sommer Wälder brennen. Der Landkreis Potsdam-Mittelmark, in dem ich lebe, ist im wahrsten Sinne ein Hotspot, denn wir haben viele Wälder, die aus Monokulturen bestehen. Hier rächen sich Fehlentscheidungen früherer Jahrzehnte, als die Forstwirte nur auf schnell wachsendes Nutzholz setzten. Mischwälder hingegen, die sich durch eine viel größere Artenvielfalt auszeichnen, sind weit weniger anfällig für Waldbrände.

Auch die Kirche zeichnet sich durch eine gewisse Monokultur aus, denn das Parochialsystem gilt nach wie vor als normativ. Doch es kann dem Klimawandel in der Gesellschaft immer weniger entgegensetzen. Räumliche Nähe, die Stärke der Parochie, muss durch lebensweltliche Nähe ergänzt werden. Das können Fresh X meist viel besser. Deshalb ist es im wahrsten Sinne des Wortes notwendig – bildlich gesprochen – auch in der Kirche konsequent die Entstehung von Mischwald zu fördern. Dieser Umbau von der Kirche als Institution hin zu einer Netzwerkarchitektur geschieht nicht von heute auf morgen. Die Anglikanische Kirche ist uns etwa ein Jahrzehnt voraus, weil sie bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts die wachsende Bedeutung von Netzwerken als Form selbstgewählter sozialer Verbundenheit erkannte. In Deutschland haben wir dies erst später begriffen. 

Doch Fresh X machen unsere Kirche nur dann robuster für die Herausforderungen unserer Zeit, wenn wir sie nicht als Projekte verstehen und so behandeln, als wären sie ein nettes Aushängeschild, das wir uns als Kirche auch noch leisten, während „das Eigentliche“ den Parochien vorbehalten ist. Nein – es findet überall dort statt, wo wir Gottes Geist auf frischer Tat ertappen. Fresh X sind vielmehr notwendige Erprobungsräume, in denen wir Erkenntnisse gewinnen für die kirchliche Transformation insgesamt. Ihre Bedeutung für diesen Prozess kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es reicht nicht aus, das Wachstum von Fresh X lediglich zuzulassen. Vielmehr bedarf es einer aktiven Förderung: eines signifikant veränderten Einsatzes von Ressourcen, eines Scoutings von Pionier*innen und eine frühzeitige Begleitung in Form von Beratung und Coaching für Teams von Gründer*innen.

Nicht jede Fresh X wird es die nächsten 100 Jahre geben. Der Lebenszyklus mancher Fresh X ist allein schon dadurch begrenzt, dass sich ihr Kontext verändert. Der Grund für das Beenden einer Fresh X sollte aber nicht primär das Auslaufen einer kirchlichen Förderung sein. Leider folgen die meisten landeskirchlichen Innovationsförderprogramme einer klassischen Projektfinanzierungslogik. Wenn Fresh X einen Beitrag zur nachhaltigen Transformation von Kirche leisten sollen, dann brauchen wir a) einen längeren Atem über die üblichen dreijährigen Förderzeiträume hinaus, b) Ideen, wie sich Fresh X finanziell solide entwickeln können, c) notwendige Abschiede von der kirchlichen Versorgungslogik, damit Ressourcen für Aufbrüche frei werden.  

Die kirchliche Transformation ist nicht weniger tiefgreifend als der Wandel von der fossilen zur regenerativen Energie. Die Kirchensteuer ist so etwas wie unsere fossile Energie. Wir müssen auch in der Kirche über ´neue Antriebe` nachdenken und neue Energiequellen erschließen. An der Finanzierung von Fresh X ließe sich erproben, welcher Energieträger die Kirchensteuer zunächst ergänzen und mittelfristig ersetzen kann. Damit rückt Wirksamkeit stärker in den Fokus. Wir brauchen Parameter, anhand derer wir nachvollziehbare Aussagen über die Wirksamkeit unserer kirchlichen Arbeit machen können. Künftig sollten auch nicht nur Fresh X Rechenschaft über ihre Relevanz geben, sondern jede Form von Kirche sollte in die Lage versetzt werden den Benefit zu verdeutlichen, den der unmittelbare Kontext, in dem sie sich befindet, und darüber hinaus die Gesellschaft als Ganze von ihrer Arbeit hat.