»Innsbruck 2021. Ein grauer Sommer. Tagelang hat es geregnet. Als es aufhört, steigen an den Berghängen Geister aus Dunst aus dem Wald. Unten in der Altstadt drängen sich die Touristen mit ihren Smartphones, um das goldene Dach zu fotografieren, das nun wieder in der Sonne glänzt. Oder sie sitzen dicht gedrängt in einem der Lokale, die ihre Stühle auf das Pflaster gestellt haben.
Als er erscheint, löst er sich aus der Masse und biegt auf die Terrasse der Pizzeria ein. Er wirkt sportlich, ist vielleicht 70 Jahre alt und trägt moderne Freizeitkleidung. Er läuft gebeugt. Es ist dieses Gebeugt sein, das nicht vom Körper ausgeht. Es kommt von innen.
Er hat die Hände in den Taschen, als er sich zaghaft einem frei gewordenen Vierertisch nähert. Wie aus dem Nichts fragt der Kellner forsch: „Sind sie allein?“ Er antwortet ein heiseres Ja, das unter den traurigen Augen einem reglosen Gesicht entweicht. Ohne hinzusehen zeigt der geschäftige Kellner auf einen der kleinen Tische am Rand. Wankend wie ein angeschossenes Tier wechselt er die Richtung, steuert in die Richtung des zugewiesenen Tisches, geht an ihm vorüber und verschwindet wieder in der bunten Menge.«
Dieser Moment, den ich in meinem Tagebuch festgehalten habe, dauerte höchstens 20 Sekunden und beschäftigt mich bis heute, denn er hat meinen Blick auf ein Thema gelenkt, das mir für meine Arbeit in Kirche und Gemeinde wichtig geworden ist.
Am Beginn der Fresh-X-Reise steht das genaue Hinhören. Als meine persönliche Fresh-X-Reise begann, lernte ich ziemlich gleich die Straßenexerzitien als eine besondere Art des Hörens kennen. Es war nur ein Hineinschnuppern, aber es hat mich so angefixt, dass ich mir einen eigenen Weg in diese Art der Gottesbegegnung gesucht habe.
Kurz gesagt geht es darum, schweigend durch die Straßen zu laufen, mit möglichst leeren Taschen und mit so wenig Sicherheit wie möglich und einer zuvor formulierten Frage. Es gibt keine Regel dabei, aber es lohnt sich, ein wenig Wagnis in Kauf zu nehmen, die eigene Komfortzone zu verlassen. Dann sind die wundersamsten Begegnungen möglich.
Es geht um nicht weniger, als Gott auf die Spur zu kommen. Und wer sich auf diese Art des Sehens einlassen kann, bekommt Antworten auf seine Fragen. Als ich ein paar Jahre, nach meinem ersten Kontakt mit dem Thema selbst einen Tag lang Menschen auf die Reise schickte, es war in Hildesheim, berichtete eine Gefährtin, dass sie mittendrin große Zweifel an dem Unterfangen bekam. Wo sollte denn Gott sein. Sie ärgerte sich und setzte sich auf eine Bank am Straßenrand und schloss die Augen. Als sie die Augen aufschlug, parkte direkt vor ihr ein Auto mit dem Kennzeichen HI-ER ein, berichtete sie lachend.
Nun kann mensch natürlich fragen, ob da nicht so etwas wie Autosuggestion dabei ist. Meine Antwort ist ein doppeltes Nein. Denn erstens funktioniert es nicht, wenn ich will, sondern ich muss alles loslassen. Und zweitens bleibt es immer noch eine Glaubensentscheidung, dass ich eben davon ausgehe, dass Auferstehung bedeutet, die Sphäre des Göttlichen und des Profanen sind nicht zu trennen. In meinem Tagebucheintrag vom Anfang nicht „er“, sondern „Er“ zu schreiben, wäre zu plakativ. Aber so habe ich es erlebt.
Mir persönlich geht es so, dass ich mit den Jahren sensibel geworden bin für einen Blick auf die Welt, der mit Gott rechnet. Und es verändert nicht nur mich. Eine Erfahrung ist, dass das Hören und Sehen auch andere Menschen einlädt, sich hörbar und sichtbar zu machen. So wie der Mann, der mich heute früh vor dem Krankenhaus ansprach, wo ich auf jemanden wartete. Ich kenne jetzt seine Geschichte und habe ihm Mut gemacht, jetzt reinzugehen und wirklich mit der Entgiftung anzufangen.
Diese Begegnungen lassen Vieles von dem, das meinen Alltag und Diskussionen in meiner Arbeitsgemeinde ausmacht, verblassen. Andere Dinge werden wichtig und auch dort kommen andere Menschen in den Blick und ich erkenne neue Handlungsfelder. Nicht umsonst heißt es: „Aber selig sind eure Augen, dass sie sehen, und eure Ohren, dass sie hören.“
Wer sich angesprochen fühlt und Lust hat oder neugierig ist, diese besondere Art der Gottesbegegnung kennenzulernen, für den habe ich zwei Empfehlungen: Die Internetseite zu den Straßenexerzitien, die der Jesuit Christian Herwartz gefunden (nicht erfunden) hat. Dort gibt es auch eine schöne Anleitung zum Einstieg. Und ein Spiel von Tobias Sauer (der hier ja auch eine Kolumne schreibt: Die Stadtpause.
Egal auf welchem Weg, das Wichtigste ist und bleibt der Austausch und die Mitteilung über das Erlebte. Und damit beginnt ja auch schon wieder Gemeinde und Gemeinschaft. Wer mehr wissen möchte, ich bin erreichbar.