inspiriert

Deutschland muss diversitätsfähiger werden

23. März

Von anderen lernen, den eigenen Blick weiten. Darum geht es in Antidiskrimininierungs-Kontexten und einer sich verändernden Kirche. Der Superintendent des Kirchenkreises Hildesheim-Sarstedt, Mirko Peisert, war Anfang des Jahres für einige Wochen in Südafrika und hat viel für sich und die Kirchen in Deutschland mitgenommen.

Was war der Grund für Ihre Reise nach Afrika?

Mirko Peisert: Kirche steht vor enormen Herausforderungen, muss sich verändern, muss sich öffnen. Das ist auch Alltagsgeschäft für mich als Superintendent. Ich hatte die Hoffnung, dass ich, wenn ich mal in einen ganz anderen Kontext gehe, vielleicht auch einen anderen Blick kriege, auf Kirche hier und lernen kann.

Wofür oder wem gegenüber muss Kirche sich öffnen?

Ha, Sie fragen nach dem Öffnen und nicht nach dem Verändern. Der Veränderungsdruck ist allein schon aus finanziellen Gründen wichtig. Kirchengemeinden erreichen nur einen sehr kleinen Ausschnitt, nicht nur der Gesellschaft, sondern auch ihrer eigenen Mitglieder. Und da müssen wir neu über Öffnung nachdenken.

Was war ein besonders eindrückliches Erlebnis auf Ihrer Reise?

Ich knüpf‘ da gleich an das Thema Öffnung an, weil das wirklich elektrisierend war. Ich war zu Gast in der Kap-Kirche, eine der vier lutherischen Kirche im südlichen Afrika – und die ist weiß geprägt. Nach 1995 sind die verschiedenen Gemeinden unterschiedliche Wege gegangen: Die einen haben sich geöffnet, die anderen haben weiter ihre eigene Tradition und weiße Kultur geprägt. Und jetzt, 25 Jahre später, ist zu beobachten: Die, die sich geöffnet und verändert haben, sind lebendig und wachsen. Die, die sich der Öffnung verschlossen und nur auf den Kern geguckt haben, das sind heute sterbende Gemeinden oder welche, die es schon gar nicht mehr gibt. Letztlich geht es also ums Öffnen oder Sterben. Das finde ich eine total spannende Frage, die ich nach Deutschland mitgenommen habe. Welche Öffnung haben wir schon verpasst? Und welche sind jetzt notwendig?

Die weißen Gemeinden in Südafrika – sind die auch von einer eurozentrischen Theologie geprägt oder herrscht da die südafrikanische Theologie vor?

Das ist kompliziert. Die weiß geprägten Kirchen sind durch Europa geprägt, durch Deutschland, die Niederlande, koloniale Strukturen. Trotzdem ist es auch schon wieder etwas Eigenständiges. Ich habe verschiedene Bibelarbeiten mit Weißen gemacht; die schauen anders auf die Bibeltexte als ich es aus dem Norden her tue. Oder Weihnachten: Weihnachten ist in Südafrika im Sommer. Es sind Sommerferien, viele sind im Urlaub. Man ist am Strand oder am Pool und es wird traditionell gegrillt. Natürlich kann man da nicht vom Licht im Dunkeln predigen oder von der Nacht, die vorgerückt ist. Das ist ein komplett anderes Setting. Es gibt aus dem Süden einfach einen anderen Blick auf die biblischen Texte. Manches, das mir am Herzen liegt, hat da gar keinen Beiklang oder weckt ganz andere Assoziationen. Ich habe viel darüber gelernt, wie kontextuell Theologie ist. Wir in Europa denken, wir sind der Mittelpunkt der Welt und manche lutherische Theologen denken, ihre Theologie ist die Norm (lacht), aber dem ist nicht so.

Superintendent Mirko Peisert aus Hildesheim bei Hannover in Südafrika vor einer Kirche des Dorfs Hannover. (Bild: privat)

Inwiefern ist unsere deutsche Theologie, unser Kirche-sein, was wir gerne als Norm sehen, nach wie vor von einem kolonialen Denken geprägt?

Es gibt natürlich koloniale Strukturen, die bis heute fortwirken. Haben wir als Kirchen in Deutschland koloniale diese Strukturen, die es nach wie vor gibt, im Blick? Reflektieren wir sie? Da können wir noch viel lernen, zum Beispiel eine kritischere Perspektive einzunehmen und sensibler zu werden.  Für mich ist die Frage hilfreich, ob die Theologie, die wir betreiben, die bestehenden Machtverhältnisse stärkt oder ob es eine Theologie ist, die sie infrage stellt.

Was würde Sie im Bezug auf Kirche sagen, in welchem Konzept bewegen wir uns: Interkulturalität, Multikulturalität, Transkulturalität, …?

Ich würde sagen, in Deutschland müssen wir generell noch diversitätsfähig werden. Es gibt in Südafrika zum Beispiel elf Landessprachen. Wenn man das jetzt von Südafrika übertragen würde, hieße das, wir bräuchten hier in Deutschland auch türkische Schulen, syrische Schulen und kurdische Schulen. Ich habe den Eindruck, gerade weil es diese Vielfalt gibt, ist den einzelnen die eigene Identität sehr wichtig. Es gibt eine große Toleranz einerseits, andererseits legt man auch viel Wert auf eigene Traditionen, Stammeskultur und die eigene Geschichte. Gleichzeitig geht man viel selbstverständlicher mit Vielfalt um und respektiert einander.

In Deutschland gibt es eine Reihe innovativer Aufbrüche, Erprobungsräume, Fresh X, … Gibt es so etwas auch in Südafrika?

Es gibt natürlich solche und solche Gemeinden in Afrika. Es gibt einige, die sehr erstarrt sind und einige, die sehr lebendig sind. Es gibt in Südafrika jedoch nicht diesen ganzen Overhead, den wir in Deutschland haben, im Sinne von missionarischen Diensten oder Projektstellen, die Aufbrüche begleiten. Insofern hängt es sehr an der einzelnen Gemeinde, Neues auszuprobieren und neue Wege zu gehen – die zumeist aber auch innerhalb von Gemeinde gedacht sind.

Sind die einzelnen Gemeinden sehr stark auf sich gestellt oder gibt es – ähnlich wie in Deutschland – Kooperationen unter den Gemeinden wie pfarramtliche Verbindungen oder Fusionen oder gibt es enge Netzwerke?

Natürlich gibt es eine Leitungsstruktur, es gibt Bischöfe und Bischöfinnen. Aber das ist im Vergleich zu uns sehr dünn. Es gibt aber ökumenisch eine sehr weitreichende Zusammenarbeit. Einzelne kleinere Kirchengemeinden organisieren sich gemeinsam und schaffen gemeinsame Pfarrstellen. Reformierte, Lutheraner, Presbyterianer, Methodisten und Anglikanern kooperieren eng miteinander. Gerade auf dem Land ist es erprobt, dass Gemeinden sich eine Pfarrstelle teilen. Da gibt es viele Beispiele und richtige Abkommen zwischen den Konfessionen, auch an der Uni in Stellenbosch kooperieren ganz viele verschiedene Konfessionen miteinander. Da ist sehr viel mehr Bewegung zwischen den Konfessionen.

Wie könnte eine deutsche Kirche ohne so viele Leitungsstrukturen, Kirchensteuer, Abgrenzungen und Beamtentum aussehen?

Für mich war es eine gute Erfahrung, eine lebendige Kirche, ohne all das kennenzulernen. Es gibt in Deutschland die Angst, wenn die Kirchensteuer fällt oder wir kein Berufsbeamtentum haben, dass das dann das Ende der Kirche ist. Da habe ich Gelassenheit bekommen. Es gibt lebendige Kirche Jesu Christi ohne all diese Strukturen. Die politischen Verhältnisse ändern sich, die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern sich, all das, was wir an Privilegien haben als Kirchen, wird jetzt schon diskutiert und wird noch viel mehr in der Debatte stehen. Wir müssen uns dem stellen und darüber nachdenken. Was ich in Südafrika gelernt und gesehen habe: Es wird zum Beispiel nicht mehr möglich sein, die historischen Kirchen zu finanzieren. Neubau-Kirchen sind eher finanzierbar für die Gemeinden, aber irgendwelche denkmalgeschützten Riesenbauten sind es nicht mehr.

Es ist ja oft so: Man packt sich viele Sachen in seinen Wanderrucksack, die man auf einer Wanderung gut gebrauchen kann. Und die sind auch auf den ersten Kilometern hilfreich, aber irgendwann dämmert es einem: Die Sachen im Rucksack sind zum Ballast geworden. Man wäre agiler, leichtfüßiger, würde man sich von einigem trennen. Sind wir als Kirche an einem Punkt, an dem wir unseren Rucksack aufmachen und überprüfen sollten, was wir jetzt wirklich noch brauchen, um leichtfüßig und befreit unterwegs zu sein und was wir am Straßenrand abstellen sollten, weil es mehr Ballast denn dienlich ist?

Ich finde das Bild gut, gerade im Blick auf die Leichtigkeit. So würde ich es auch beschreiben. Man kann es ja positiv formulieren: Wir haben in Deutschland aufgrund der steuerlichen und rechtlichen Strukturen eine unglaubliche Stabilität. Und eine ganz große Verlässlichkeit. Auch wenn wir schrumpfen, es gibt eine Verlässlichkeit. Ich kann es aber auch anders sagen: Es führt zu Erstarrungen, und es verfestigt uns. Wir haben eine Stabilität, die wertvoll ist, die uns aber auch einengt in unserer Handlungsfähigkeit. Das ist mir da bewusst geworden.

Da ist auch das Thema Relevanz zu nennen. In Südafrika haben wir eine Kirche, die institutionell schwach ist; keine Kitas, keine Diakonie – all die großen Einrichtungen. Und wir haben auch eine Kirche, die nicht viel Geld hat. Trotzdem hatte ich immer wieder den Eindruck, dass Kirche und auch der Glaube im Alltag sehr relevant sind. Vielleicht ist eine Kirche, die nicht so viel Macht hat eine, die sich auf andere Art und Weise Anerkennung erwerben kann. Das finde ich einen spannenden Gedanken.

Eine Kirche, die nicht viel Macht hat, ist vielleicht eine Kirche, die viel macht.

Ja, genau! Kirche in Deutschland hat viel Ansehen verspielt und wird auch kritisch hinterfragt, weil sie nach wie vor durch die Strukturen sehr viel Macht hat. Sie könnte wieder mehr an Ansehen gewinnen, wenn sie nicht mehr die gesellschaftlichen Vorteile und Macht hat.

Was nehmen Sie als Superintendent aus Südafrika mit? Was machen sie zukünftig vielleicht auf die südafrikanische Art?

Ich würde Kolleg:innen und Kirchenvorstände ermutigen, im Sinne dieser Öffnung zu agieren. Und ich würde auch vertreten, dass die reine Konzentration auf einen vermeintlichen Kern uns nicht weiterführt. Theologisch habe ich noch mal bewusst die Kontextualität von Theologie kennengelernt. Das verändert mich in meinem Denken und macht mich noch mal kritischer gegenüber kolonialer Strukturen, die wir hier haben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Autorin, Lektorin, Redakteurin von Beruf. Mitarbeitende, Mitdenkende, Mitgestaltende in Kirche. Suchende, Sehnende, Scheiternde, Fragende, Findende, Fordernde im Privaten.