Am Martinstag haben wir zum letzten Mal zusammengesessen. Es war ein Mittwoch. Eines der Kinder aus der kleinen Gruppe von Familien, die sich in den letzten Monaten gefunden hatte, wollte getauft werden. Es war unser letztes Treffen vor dem Lockdown, der nun schon so lange anhält. Die Taufgemeinschaft hatte sich eingefunden, dazu noch ein paar Kinder mit ihren Eltern.
Später sitzen alle um den großen Tisch. Die Erwachsenen schlürfen Cappuccino aus dem neuen Kaffeeautomaten, die Kinder versuchen, bunte Papierschnipsel auf Einmachgläsern zu platzieren. Es ist sehr entspannt. Wir kennen uns jetzt schon eine Weile.
Irgendwann frage ich, wer eine Idee hat, warum wir uns die Geschichten von St. Martin nach 1.700 Jahren immer noch erzählen. Die Antwort kommt von einer Sechsjährigen mit Papierschnipseln und Klebstoff an mehreren Fingern und sie haut mich bis heute um: „Weil er von Jesus geträumt hat.“
Kinder sind für religiöse Fragen und Gefühle besonders offen. Für Kinder ist das Auf-der-Welt-Sein ein Grund zum Staunen. Kinder bringen alles mit, was sie für ihren spirituellen Weg nötig ist: Sie sind neugierig, können sich wundern, haben einen unbändigen Willen sich zu entwickeln und zu lernen. Kinder sind gefühlvoll, haben endlos Fantasie und Vorstellungskraft, sind kreativ und spontan – und sie können spielen.
Ich wundere mich oft, wie wenig wir uns das als Kirche gönnen. Je tiefer ich bei Kirche eingestiegen bin, desto mehr habe ich freudlos-komplizierte Strukturdebatten und dazu gehörige Sitzungen kennengelernt. Manchmal habe ich das Gefühl, alles dreht sich nur um uns selbst. Die Sache ist aber die, dass sich Träume nun mal nicht verwalten lassen.
Das großartige an Kindern ist, dass sie so überhaupt nicht denken. Wunder passieren in ihrem Alltag. Damit können Kinder die Erwachsenen reich beschenken. Es gibt einen Grund, warum über Jesus mehrfach im Neuen Testament berichtet wird, dass er Kinder in den Mittelpunkt stellt. Die Jünger streiten sich, wer der Wichtigste unter ihnen ist und Jesus entscheidet die Machtfrage mithilfe eines Kindes.
Wenn man das ernst nimmt, sind Kinder nicht Beiwerk der Kirche. Sie sind auch nicht ihre Zukunft. Kinder sind Mittelpunkt und Gegenwart der Kirche. Von ihnen geht etwas aus. Als Erwachsener kann ich mich neu beleben lassen, wenn ich mich mit den Kindern auf die Suche nach der Lebensquelle mache. Kritiker dieses spirituellen Ansatzes der Religionspädagogik nennen ihn esoterisch, weil er nicht nur auf explizit christliche Formen setzt. Aber Wundern lässt sich nun mal nicht vorschreiben, wann und wo sie geschehen sollen.
Ich persönlich glaube, dass das größte Wunder gerade darin besteht, dass meine evangelische Kirche zusehen kann, wie ihr Geld und Strukturen förmlich in den Händen zerrinnen. Da bleibt beinahe nur, sich mal über einen Neustart Gedanken zu machen. Die Pandemie unterstreicht das noch. Und ich würde diesen Neustart vom Kind her denken, dass wir ja alle mal waren – und heimlich noch sind.
Der jüdische Kinderarzt und Pädagoge Janucz Korczak (August 1942 in Treblinka ermordet) hat das in „Wenn ich wieder klein bin“, einem seiner frühesten Werke, durchgespielt. Wie würde Schule aussehen, wenn sie durch Kinder neu geschaffen wird und dem Wissensdrang und Lebenswillen der Kinder entspricht?
Wie würde eine Kirche aussehen, die so neu entsteht? „Gottes Weg mit Kindern zu sein – und der Weg der Kinder mit Gott zu sein“ (Rebecca Nye), was kann das im Alltag einer Kirche bedeuten? Was macht es mit den Erwachsenen und der Gesellschaft?