Janas Erfahrungen mit religiösem Missbrauch – und ihr Weg zurück in die Freiheit
„Am Anfang war ich fasziniert, am Ende konnte ich nicht mehr atmen.“ So beschreibt Jana Schmidt ihre Erfahrungen, die sie über zehn Jahre in einer christlichen Gemeinschaft gemacht hat. Eigentlich hatte sie dort Hilfe und Heilung gesucht. Bekommen hat sie Erniedrigung und Traumatisierung. Und das von Menschen, die sich als geistliche Leiter verstehen und inszenieren. Jana (alle Namen geändert) wächst in der DDR auf. Ihr Vater ist unbekannt, ihre Mutter vernachlässigt sie und ihre beiden Brüder. Wenige Monate nach ihrer Geburt kommt Jana mit dem mittleren Bruder zusammen in ein Heim. Mit vier Jahren wird Jana adoptiert – ohne ihren Bruder. Die Adoptivmutter ist alleinstehend, zu ihr entsteht keine emotionale Bindung. Jana sehnt sich nach einer herzlichen Familie, nach einem Vater und entfernt sich innerlich von der Adoptivmutter. Als Jugendliche – immer noch in der DDR – kommt sie mit der Polizei in Konflikt und verbringt wegen „staatsfeindlicher Äußerungen“ drei Monate im Gefängnis. Sie bricht ihre Ausbildung ab und zieht weg aus ihrem Dorf. Der Alkohol ist schon länger „ihr Freund“, wie sie es selbst beschreibt. Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der deutschen Wiedervereinigung wächst in ihr die Hoffnung, dass sich nun neue Möglichkeiten auftun. Doch eine Vergewaltigung und ihre Alkoholsucht verhindern, dass sie diese Möglichkeiten nutzen kann. Eines Nachts trifft Jana einen Pastor, den sie vom Sehen kennt. Sie schildert ihm ihre Probleme, er empfiehlt ihr eine christliche Gemeinschaft. Dort gäbe es Therapieangebote für Drogen- und Alkoholabhängige. Er vermittelt einen Termin für ein gegenseitiges Kennenlernen. „In meinen dauerbewölkten Geist fielen ein paar Sonnenstrahlen der Hoffnung“, schreibt Jana in ihrem Buch „Sie predigten Wasser und tranken Wein“, das im September bei SCM Hänssler erschienen. Auf der Fahrt zum Kennenlerntag ist Jana voller Erwartung. Sie wird von einer Mitarbeiterin der „Insel“ (Name geändert) freundlich empfangen. Die „Insel“ ist eine Lebensgemeinschaft von Hilfesuchenden und Mitarbeitenden unter dem Dach einer größeren christlichen Gemeinschaft. Jana wird über den Tages- und Wochenplan und die Hausregeln informiert. Sie staunt über die straffe Struktur und fragt sich, ob sie das schaffen kann. „Die Regeln fand ich ziemlich krass“, erinnert sie sich im FamilyNEXT-Interview. So ist es beispielsweise untersagt, „weltliche“ Musik zu hören und „weltliche“ Bücher und Zeitschriften zu lesen. Beim Gespräch mit Robert, dem Leiter der „Insel“, fühlt sich Jana hin- und hergerissen. Einerseits begeistert es sie, dass er selbst eine Drogenvergangenheit mit Hilfe des christlichen Glaubens hinter sich gelassen hat, wie er erzählt. Andererseits fühlt sie sich bedrängt durch sein Reden von Jesus und sein Gebet um den Heiligen Geist. „Er ließ mir nicht eine Sekunde Zeit zu überlegen, ob ich das überhaupt wollte, sondern begann sofort zu beten.“ Jana war als Kind zur Kommunion gegangen. Danach hatte sie nicht mehr viele Berührungspunkte mit dem christlichen Glauben gehabt. In dem Gespräch allein mit Robert fühlt sie sich überrumpelt. Aber sie wagt es nicht, sich gegen das übergriffige Verhalten zu wehren – ein Muster, das sich später fortsetzen wird.
Vom Glanz in die Dunkelheit
Martina Kessler, Theologin und seelsorglich-psychologische Beraterin, hat sich intensiv mit religiösem Machtmissbrauch beschäftigt. In Janas Buch ordnet sie deren Schilderungen ein und erklärt, wie sich religiöser Missbrauch zeigt. Schon in dieser ersten Begegnung mit einem Leiter der Gemeinschaft erkennt sie typische Merkmale: „Religiöser Machtmissbrauch ist es auch, ungefragt durch ein Gebet in Janas Leben einzugreifen. Ein solches Gebet ist grenzüberschreitend und damit übergriffig.“ Zwei Wochen nach dem Kennenlerntag bekommt Jana die Info, dass sie in die „Insel“ aufgenommen ist. Sie ist froh, unter ihr altes Leben einen Schlussstrich zu ziehen. Die Gemeinschaft sehr unterschiedlicher Menschen fasziniert sie, außerdem „diese Gottesdienste, die wirklich dynamisch waren, und die Emotionalität, wie sie ihren Glauben gelebt und gepredigt haben“. Jana ist beeindruckt, dass die Gemeinschaft sich nicht nur für Suchtkranke engagiert, sondern auch für Straßenkids und Obdachlose und dass sie Auslandseinsätze durchführen. Im Interview schildert sie, dass sie die missbräuchlichen Strukturen am Anfang nicht durchschaut habe. „Das ging schleichend. Es hat sich immer mehr verkehrt vom Glanz in die Dunkelheit.“ In der ersten Zeit in der „Insel“ wird Jana bedrängt, sich zu bekehren. Schließlich gibt sie dem Drängen nach. Ein „Schlüsselerlebnis“, wie andere es anpreisen, ist dies für sie nicht, sondern eher mit der Erleichterung verbunden, nicht mehr bedrängt zu werden und „richtig“ dazuzugehören. Therapeutische Gespräche gibt es nicht. Es ist auch niemand da mit einer entsprechenden Ausbildung. Stattdessen muss Jana nach ihrer „Bekehrung“ eine „Lebensbeichte“ ablegen. Sie bekommt ein leeres Blatt und soll alle Verfehlungen aufschreiben – bis in ihre intimsten Bereiche hinein. Anschließend muss sie all das ihrer „Bezugsperson“, Roberts Frau Christina, und einer weiteren Mitarbeiterin offenbaren – als Voraussetzung dafür, dass Gott ihr vergibt. „Eigentlich ging mir das alles zu weit“, schildert Jana. „Aber ich fügte mich.“ Am Tag nach der Lebensbeichte wird Jana zu einem Gespräch mit Christina und Robert zitiert. Sie ist erschrocken, dass Robert all die Dinge weiß, die Jana im vermeintlichen Vertrauen den Frauen gebeichtet hat. Dass Robert sich einschaltet, begründet er damit, dass er eine dämonische Belastung bei Jana vermutet. Und als Mann und Leiter habe er eine größere Autorität, um dagegen anzugehen. Nachdem ihr die Beichte eine gewisse Erleichterung verschafft hat, ist Jana nun wieder komplett verunsichert – zum einen, weil Robert als Mann und Leiter der Gruppe ihre intimsten Geheimnisse kennt, zum anderen, weil ihr die angebliche dämonische Belastung Angst macht.
Vertrauensbruch
In den folgenden Jahren erlebt Jana immer wieder, dass Dinge, die sie Christina im Vertrauen erzählt, an Robert weitergegeben werden. Regelmäßig wird Jana von Robert in sein Büro zitiert. Sie wird kleingemacht und eingeschüchtert. Hier wird regelmäßig das Seelsorgegeheimnis gebrochen – und das Vertrauen, das Jana zu ihrer Bezugsperson aufgebaut hat. Im Rückblick erkennt sie das Prinzip von „Zuckerbrot und Peitsche“ von Seiten der Leiter, mit dem sie in der Abhängigkeit von ihnen gehalten wird. Dieses Prinzip zeigt sich auch darin, dass immer, wenn es Jana besser geht oder wenn sie ein bisschen an Selbstwert gewinnt, sie sofort wieder klein- und schlechtgemacht wird. Wenn sie das Gefühl hat, dass sie etwas heiler geworden ist, wird sie neu verletzt. Jana erzählt: „Ich wusste gar nicht mehr, wer Gott ist und wie er ist. Eine Woche hörst du eine Predigt, dass Gott dein liebender Papa ist. Und eine Woche später, dass Gott will, dass einige von uns Märtyrer werden. Da habe ich innerlich nur noch geschrien: Ich will doch einfach nur leben! Ich bin fast daran verrückt geworden, weil ich nicht mehr wusste: Will Gott mich heilen oder will er mich in den Tod schicken?“ Dazu kommt, dass Mitglieder der Gruppe, die gegen Regeln verstoßen haben, öffentlich bloßgestellt wurden. „Leute wurden diffamiert, ohne sie beim Namen zu nennen. Aber jeder wusste, um wen es geht.“ Dadurch wurde Angst geschürt. „Ich hatte immer die Angst in mir, dass mein Platz in der Gruppe nicht sicher ist.“
Süchtig nach Macht
Martina Kessler bezeichnet die offene und versteckte Einschüchterung als typisches Merkmal von religiösem Machtmissbrauch. Es werde suggeriert, „wer seinem Leiter nicht gehorcht, der gehorche auch Gott nicht“. In Bezug auf Jana meint sie: „Es ist eine ganz offensichtliche Einschüchterung, dass Jana immer wieder in Roberts Büro zitiert wird. Eine Lieblingswaffe von Machtmenschen ist es, andere kleinzumachen.“ Einen Machtmenschen definiert Martina Kessler als „einen Menschen, der süchtig nach Macht ist – vergleichbar mit einem Alkoholsüchtigen“. Auf die Frage, ob diese Menschen ihre Macht bewusst missbrauchen, meint sie: „Ich gehe davon aus, dass sie nicht bewusst handeln. Aber sie haben sich an eine bestimmte Art zu agieren gewöhnt. Dem Machterhalt wird ganz viel untergeordnet, ihre Werte verändern sich. Aber es ist auch völlig egal, ob das jemand bewusst oder unbewusst macht“, betont sie. „Wenn ein Mensch etwas Böses tut, hat er etwas Böses getan – auch wenn dahinter ein Motiv steckt, das aus seiner Perspektive gut ist.“
Wie verbreitet religiöser Missbrauch ist, lasse sich nicht beziffern. Aber es sei verbreiteter, als viele denken. „Machtmissbrauch kann überall vorkommen, besonders anfällig sind die Politik, das Justizvollzugswesen und religiöse Gruppen. Religiöser Machtmissbrauch betrifft vor allem Menschen, denen es besonders ernst ist mit dem Glauben. Wenn Menschen gewillt sind, im Glauben zu wachsen, passiert es, dass andere das ausnutzen.“ Den Leitern der Gemeinschaft, zu der die „Insel“ gehört, ist es wichtig, die Mitglieder der Gruppe nach außen hin abzuschotten. „Alle Kontakte, die man hatte, waren innerhalb der Gruppe.“ Den Kontakt zu Freunden von früher muss Jana abbrechen. Aber obwohl sie in einer engen und intensiven Gemeinschaft lebt, fühlt sie sich einsam. „Ich konnte meine inneren Konflikte mit niemandem teilen. Das hat die Einsamkeit hervorgebracht.“
Überlebensmodus
Vor einigen Jahren hat Jana die „Insel“ verlassen. Der Ablöseprozess dauerte mehrere Jahre. Erste Schritte waren eine Anstellung in einer Firma außerhalb der Gemeinschaft und der Umzug in eine WG zusammen mit anderen Leuten aus der Gruppe. Jana spürt immer stärker, dass die Impulse, die sie in der „Insel“ bekommt, eher „Leben nehmen als Energie und Leben geben“. Schließlich erfährt sie von einer Freundin, dass sie sich bei einem Ehepaar außerhalb der Gemeinschaft Hilfe geholt hat. Als diese Freundin daraufhin von Paul, dem obersten Leiter der Gemeinschaft, als Nestbeschmutzerin beschimpft wird, merkt Jana: „Ich verrecke, wenn ich hier bleibe.“ Sie agiert daraufhin im „Überlebensmodus“: „Ich habe nicht mehr abgewogen. Ich habe meiner Bezugsperson nur kurz mitgeteilt: ‚Ich bin weg‘, damit sie keine Chance mehr hat, Einfluss zu nehmen.“ Jana kommt bei einer Freundin unter, die eine eigene Wohnung hat. Doch statt besser, geht es ihr erst einmal schlechter. „Ich war ständig krank und habe mit Selbstverletzungen angefangen, weil ich mich schuldig gefühlt habe.“ Jana sucht sich bewusst eine Therapeutin, die keine Christin ist. „Das ganze Christliche war einfach verbrannt“, erzählt sie. „Ich musste Abstand kriegen zu all dem, was irgendwie mit Gott zu tun hatte. Das war für mich zum Minenfeld geworden.“
Seit Janas Ausstieg sind einige Jahre vergangen. Es war ein schwerer und langer Weg für sie. Mittlerweile hat sie wieder Boden unter den Füßen. „Ich habe durch meinen Job bei einer Behörde viel Stabilität und Anerkennung bekommen. Und ich habe Freunde gefunden.“ Die Therapie hat Jana geholfen, aber immer noch leidet sie unter Angst und emotionalen Ausnahmezuständen. Vor Kurzem hat sie die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung bekommen. Das „Minenfeld Glaube“ ist noch nicht geräumt. „Aber irgendwann habe ich wieder angefangen zu suchen: Gibt es etwas Höheres? Ich kann es für mich aber noch nicht beantworten, ob es Gott gibt.“ Jana hat ihre Erfahrungen aufgeschrieben – anfangs für sich, um zu formulieren, was überhaupt passiert ist. Dann für ihre Freundinnen und Freunde, von denen auch einige den Ausstieg aus der Gemeinschaft gewagt haben. Außerdem wolle sie religiösen Missbrauch greifbar machen und erklären. Sie möchte Möglichkeiten aufzeigen, wie man den Weg aus missbräuchlichen Beziehungen und Systemen heraus findet. Und wie man wieder frei atmen kann.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift FamilyNEXT (Ausgabe 5/2023). Das Magazin für Familien mit größeren Kindern erscheint im SCM Bundes-Verlag, zu dem auch andere Zeitschriften sowie das Internetportal Jesus.de gehören.