Ein achtjähriges Mädchen steht an einem Sonntagmorgen im Sommerkleid und mit geflochtenem Haar am Taufstein ihrer Kirche. „Warum willst du dich taufen lassen?“, wird sie vom Pfarrer gefragt. Selbstbewusst greift sie nach dem Mikrofon: „Ich will zu Jesus Christus gehören. Die letzten Jahre habe ich viel von ihm in der Kinderkirche und der Jungschar gehört. Ich habe ihn in mein Leben eingeladen und alle sollen das jetzt wissen. Darum will ich heute getauft werden.“ Tränen in den Augen des Mädchens, noch mehr Tränen bei den Eltern und auch ich bekomme glasige Augen. Eigentlich ist damit bereits alles gesagt und der Artikel könnte hier enden …
Aber fangen wir von vorne an: Als Kirche müssen wir uns eingestehen, dass wir nicht nur überaltern, sondern auch schrumpfen. Weniger als die Hälfte der Deutschen sind noch Mitglied in einer der beiden großen christlichen Kirchen. Impulspapiere, Reformprozesse und Schrumpfungsgedanken sind an der Tagesordnung. Wo investieren wir unsere Zeit und die knapper werdenden finanziellen Ressourcen? Wie viel kirchliche Steuerung und wie viel Freiheit braucht es? Wo heben wir Neues aus der Taufe und was darf zu Grabe getragen werden?
Kinder verändern den Blick auf Kirche
Eine Gemeinde, die Kinder und Jugendliche auf ihrer Agenda hat, wird eine andere Art von Gemeindeentwicklung betreiben, weil sie nach Bedürfnissen einzelner Gruppen Ausschau hält. Wo wir bewusst in den Nachwuchs investieren und mit einer „Kinderbrille“ durch unsere Gemeinden gehen, da werden wir Hürden und Hindernisse, die Menschen (nicht nur Kindern!) den Weg in die Kirche und zum Glauben verbauen könnten, aus dem Weg räumen: komplizierte theologische Fachbegriffe, Bandwurmsätze, Stolperfallen im Gemeindehaus, Gottesdienste mit Überlänge, geschlossene Gruppen, die nach außen dicht und nach innen schön warm sind. Das mag Tradition haben und etabliert sein – aber ist es hilfreich, um Menschen den Weg zu Jesus Christus zu zeigen?
Die Entscheidungen vor Ort werden unterschiedlich sein: Die einen werden ihre Gottesdienste weiterentwickeln und dort immer wieder von Erfahrungen mit Gott im Alltag, vom Glauben, Warten, Scheitern und Hoffen berichten. Andere werden eine Willkommenskultur etablieren – und ganz mutige Gemeinden werden vielleicht auch die Kirchenbänke bei der nächsten Renovierung gegen verschiebbare und bequemere Stühle tauschen.
Kinder verändern den Blick auf Gott
Kinder haben oft einen viel unbeschwerteren Zugang, wenn es um Gott geht. Manche nennen es naiv, ich nenne es mutig. Ob es das kranke Meerschweinchen, die Angst vor der Dunkelheit oder das heiß ersehnte Fußball-Trikot zum Geburtstag ist – Kinder haben keine Scheu davor, Gott um Hilfe zu bitten. Vielleicht auch, weil sie es gewohnt sind, auf andere Menschen, die größer sind angewiesen zu sein.
Außerdem erinnern uns Kinder immer wieder aufs Neue, dass wir vor Gott alle bedürftig sind und dankbar entgegennehmen dürfen, was uns Gott schenkt. Da gibt es keinen, der vor Gott besser dasteht: Nicht der Pfarrer, nicht die Kirchengemeinderätin, nicht der Obdachlose, nicht der Reli-Lehrer, nicht die reiche Unternehmerin oder der Gottesdienst-Dauerbesucher mit Stammplatz.
Schließlich sind Kinder (meist) ehrlich. Manchmal so ehrlich, dass es beinahe wehtut. Dass ein Wort das andere gibt. Dass es einmal laut knallt, einen Streit gibt und danach wieder Frieden geschlossen werden kann. Die emotionalen Wellen schlagen bei Kindern (und erst recht bei pubertierenden Teenagern) höher: Freude, die die Brust anschwellen lässt und krokodilgroße Tränen. Beides zeugt aber von Ehrlichkeit und Authentizität. Beides brauchen wir in unseren Gemeinden und im Glauben. Fromme Worte sind das eine, ehrliche Gebete, die auch Wut und Trauer Ausdruck verleihen das andere.
Das Wozu unserer Kinder- und Jugendarbeit lässt sich durch das englische Wort „equip“ gut ausdrücken: Wir rüsten junge Menschen für ihr Leben aus und geben ihnen mit, was uns am wichtigsten ist: den Glauben an Jesus Christus, Nächstenliebe, Hoffnung, Vertrauen, Engagement für unsere Schöpfung.
Gemeinde als positiver Ort zum Großwerden
Doch allein die Weitergabe dessen, was uns zentral ist, genügt nicht. Je älter Kinder werden, desto mehr Spielräume benötigen sie, um sich auszuprobieren, kritisch etwas zu hinterfragen, auf die Nase zu fallen und wieder aufzustehen. Meine Erfahrung ist: Kinder und Jugendliche fühlen sich wohl, wenn wir sie und ihre Ideen ernstnehmen. Hier braucht es mutige Kirchengemeinderäte, die für innovative Ideen der Jugendlichen offen sind – und Rückschläge in Kauf nehmen. Dafür brauchen die Teenager das Gebet, aber auch uns als Ansprechpartner, denen sie sich vorbehaltlos öffnen können.
Für mich ist es total bereichernd, wenn Konfis oder Schüler zu mir kommen, ihre Fragen und Zweifel mit mir durchdenken. Ein Raum, wo ich meine Fragen, auch gegenüber dem, was ich vom Elternhaus mitbekommen habe, äußern kann, ist kostbar. Damit unser Nachwuchs die Gemeinde als „safe space“ erfahren kann, sind klare Regeln, was den Umgang mit Nähe und Distanz betrifft, nötig.
Auf Hoffnung säen
Ob der Samen, den wir mit unseren Angeboten von heute säen, morgen aufgeht? Das wissen wir nicht. Aber dass unsere Kindheit und Jugend für den weiteren Verlauf unseres Lebens und unserer Entscheidungen prägend sind, ist bekannt. Deshalb will ich großflächig den Samen austeilen: bei Jugendgottesdiensten, im Reli-Unterricht, beim gemeinsamen Fußball-Spielen, auch wenn es nicht meine größte Gabe ist.
Bei allem, was wir an Kraft, Schweiß und Zeit für unseren Nachwuchs investieren, wollen wir eins unseren Jugendlichen nicht vorenthalten: Jesus mit Leidenschaft nachfolgen und in dieser Welt einen Unterschied machen, das geht nicht auf eigene Kraft oder Rechnung, sondern nur durch den Heiligen Geist.
Hoffnungsort Kindergarten
Vor kurzem habe ich eine der beiden Kindertagesstätte besucht, deren Trägerschaft meine Kirchengemeinde hat, und werde von sogleich von einigen Kindern umringt: „Wer bist? Kommst du jetzt öfters?“ Dass ich eine spontane Bewegungslied-Aufführung zu einem Kinderkirch-Schlager und ein Geschenk von den Kindern bei meinem unangekündigten Besuch bekomme, darf nicht unerwähnt bleiben. Ja, es gibt auch die andere Seite einer solchen Trägerschaft: Verwaltung, Personalbesetzungsausschuss und Bewerbungsgespräche. Doch aus meiner Sicht überwiegen die Chancen: Da melden Eltern ihre Kinder an, die kaum eine Kirchenschwelle übertreten würden. Da singen Kinder begeistert „Gott, dein guter Segen“ und erfahren, wie es ist, wenn sie jemand vorbehaltlos liebt. Und nicht zuletzt lernen manche Kinder in der Vorschulgruppe mit biblischen Geschichten das Lesen. Als Kirche in die Gesellschaft wirken und unsere Jüngsten fit fürs Leben machen – das ist eine Chance, die wir uns nicht entgehen lassen sollten.
Kinder oder Kohle?
Die beiden evangelischen Landeskirchen in Baden-Württemberg haben im Jahr 2000 neben dem regulären Konfi-Unterricht im 8. Schuljahr ein Konzept entwickelt, dass Kinder bereits in der 3. Klasse mit der Gemeinde, Taufe und Abendmahl vertraut macht und Eltern aktiv einbindet. In Zeiten sinkender religiöser Grundwasserspiegel und „Taufmüdigkeit“ ein hilfreiches Konzept, denn Acht- und Neunjährige sind neugierig und mit voller Freude dabei. In kleinen Gruppen werden die Kinder zuhause von Eltern und Hauptamtlichen angeleitet und lernen den christlichen Glauben mit Gebeten, Liedern, Geschichten und erlebnispädagogischen Elementen kennen. Dazu kommen Familiengottesdienste innerhalb des Konfi-3-Zeitraumes sowie ein großer Abschlussgottesdienst. In der 8. Klasse kann auf diesem Fundament dann aufgebaut werden.
Wer jetzt sagt: „Das kostet aber alles viel Geld!“, dem will ich antworten: Kindern und Jugendlichen in unseren Gemeinden eine Heimat zu bieten, ist zunächst eine Frage der Haltung: Will ich, dass Kinder und Jugendliche Gemeinde als einen sicheren Ort erfahren, wo sie altersgerecht Gott begegnen, Gemeinschaft erleben und selbst ihrem Glauben Ausdruck verleihen können? Wer diese Frage mit „Ja“ beantworten kann, wird Mittel und Wege finden. Meine Begegnungen mit Kindern im Gemeindekontext haben mir gezeigt: Ein großes Herz, offene Ohren und die Bereitschaft sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen, sind schon ein Anfang.