Es ist längst kein Geheimnis und auch keine Überraschung: Kirchliche Einzugsgebiete werden größer, Mitglieder weniger. Aufgaben, die Pfarrpersonen zu erledigen haben, werden mehr, Relevanz von Kirche wird weniger. Und genau deshalb gibt es (mal wieder) neue Konzepte, die eine Veränderung der Kirche fördern und ihren Fortbestand sichern sollen. Eins davon ist die regiolokale Kirchenentwicklung (RLKE). Aktuell führt midi in Zusammenarbeit mit den Landeskirchen ein Schulungskonzept durch. An vier Schulungstagen sollen im Norden, Süden, Osten und Westen Deutschlands Impulstage durchgeführt und die Idee der regiolokalen Kirchenentwicklung gestreut werden.
Regiolokale Kirchenentwicklung: Impulstag im Westen
Am 25.04.2023 fand in Dortmund der Impulstag im Westen statt. Im Haus kirchlicher Dienste in der Dortmunder Innenstadt. Versammelt hatten sich knapp zwei Dutzend Menschen, die zu 97 % hauptamtlich für und in Kirche arbeiten. Manche schon seit Langem. Manche erst seit ein paar Jahren. Alle waren sich einig: Wir müssen nicht nur etwas verändern, wir wollen auch etwas verändern und bewirken. Für die Menschen in der Gemeinde, für die Menschen, vor Ort, für die Menschen in der Region. Alle hatten schon Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit anderen Kirchen gesammelt. Fusionen, gemeinsame Kirchenfeste, regionale Taufgottesdienste und Ähnliches. Manche hatten die Zusammenarbeit oder Kooperation als bereichernd und als einen wertvollen Austausch erlebt. Andere beklagten große Beharrungskräfte, Verteilungskämpfe und die viele Zeit, die im Aufbau von Beziehungen auf Augenhöhe aufgewendet werden müsse.
Eine Zusammenarbeit mit anderen Gemeinden birgt viele Chancen, keine Frage. Bündelung von Verwaltungsaufgaben wurden da genannt, ebenso wie eine mögliche Bereicherung auf der Leitungsebene und eine Qualitätssteigerung, das Erleben von einer größeren Gemeinschaft sowie eine „neue Freiheit für das Reich Gottes im Großen und Ganzen“. Gleichzeitig stehen einige Befürchtungen im Raum: der Verlust von Nähe zu den Menschen in der Gemeinde und der Ortskirche, Verlust von engem Bezug zum Pfarrer, zu weite Wege, wenig bis kein Gemeinschaftserleben über die Gemeindegrenzen hinweg sowie, dass die ganze Kirchenentwicklung, die derzeit forciert wird, „zu viel, zu schnell, zu theoretisch“ geschieht und die Gemeinden nicht abgeholt und mitgenommen werden.
Haltungsänderung in der regiolokalen Kirchenentwicklung
Wenn bislang von Kooperation und Zusammenarbeit die Rede war, schwebte die Fusion wie ein Damoklesschwert über den Gestalter:innen. Neben allen notwendigen Neuerungen sollte aber auf jeden Fall eine flächendeckende Versorgung erhalten bleiben, die Pfarrperson galt als feste – unveränderbare – Größe, man hoffte auf Entlastungseffekte, nahm die Verkleinerung resigniert in Kauf und steckte die meiste Energie in den Rückbau der einst so starken Kirche mit Strahlkraft.
Doch nun soll es anders werden. Eine Haltungsänderung wird angestrebt. Nicht mehr meine Kirche, mein Ort, meine Gemeindemitglieder. Stattdessen: unser Glaube, unsere Gemeinsamkeiten, unsere Region. Im passend dazu erschienenen Büchlein „Vertrauen und Verantworten. Regiolokale Kirchenentwicklung II: Umsetzung, Praxis und Erfahrung“ schreiben Michael Herbst und Hans-Hermann Pompe unter anderem über die DNA der RLKE, die auch Bestandteil des Impulsreferats der beiden war:
„Die RLKE initiiert und fördert in der Region eine gemeinsame geistliche Orientierung. Sie orientiert sich an Gottes Sicht, um die Kirche und ihren Auftrag, die Gesellschaft und den Sozialraum, die getauften Glaubenden und ihre Gaben neu wahrzunehmen.“ (S. 9) Kooperationen sollen um der Menschen willen gewagt werden, Besitz und Räume müssen zugunsten des Evangeliums riskiert werden. Dabei ist eine Haltung, die von Liebe und Wertschätzung geprägt ist vonnöten. „Sie verlässt das Kirchturmdenken, um eine Reich-Gottes-Perspektive zu gewinnen, die andere achtet. Sie begreift, dass zu kleine, zu private, zu enge Einstellungen die Glaubwürdigkeit der gesamten Kirche mindern.“ (S. 10) Bereits bestehende, tragende Strukturen des Miteinanders sollen erhalten bleiben und gefördert werden, ein blindes Festhalten an Strukturen (um der Strukturen willen) ist dagegen fehl am Platz. In der RLKE sind Unterschiede Chancen und diverse Formate offene Türen. Ganz wie es in der Bibel heißt: Du stellst meine Füße auf weiten Raum (Psalm 31,9), soll auch die RLKE den neuen, weiten, regionalen Raum als einen Gestaltungsraum des Miteinanders nutzen. Dafür ist eine Offenheit für die sich verändernde Gesellschaft unabdingbar. Allerdings sollen die Veränderungen, die Sehnsüchte der Menschen und auch ihre Irrwege „im Licht des Wortes Gottes“ (S. 10) gedeutet werden, um den Sozialraum, in dem Kirche sich bewegt, als ein Wirkungsfeld des Heiligen Geistes ernstzunehmen.
Der Sozialraum in der regiolokalen Kirchenentwicklung
Die Region als sozialer Raum ist allerdings, so Hans-Hermann Pompe, bisher wenig reflektiert worden. Immer noch ziehen sich Menschen hinter ihren Kirchenmauern, hinter Kirchenkreis-Grenzen oder hinter Stadtteilmarkierungen zurück. Dabei sind diese Grenzen Konstrukte vergangener Zeiten, die dringend überdacht werden müssen. Ein Denken in den Sozialraum, in die Region hinein, ermöglicht vielfältige Gestaltungsräume, die bisher hinter (theoretischen) Grenzen zurückblieben. In einem fairen und wechselseitigen Miteinander soll die regiolokale Kirchenentwicklung Diversität fördern und stärken und erhöht so die Reichweite und Relevanz in die Gesellschaft hinein.
Damit dies gelingen kann, ist jedoch eine Haltungsänderung unabdingbar, wie Michael Herbst nachdrücklich im Vortrag betont. Nicht nur weg vom eigenen Kirchturm, den eigenen Aufgaben, den eigenen Mitgliedern, den eigenen Finanzen. Sondern hin zu der Missio Dei: Der Mission Gottes für und in dieser Welt, die bereits stattfindet, mancherorts sichtbar wird und die wir MITgestalten sollen und dürfen. Mission darf nicht zum Selbstzweck, also zum Selbsterhalt der Kirchen heraus geschehen, sie soll das Ziel haben, viele (verschiedene) Formen der Begegnungen mit Menschen zu ermöglichen und diese Vielfalt als einen kreativen Schöpfungsausdruck Gottes werten. Hans-Hermann Pompe unterstreicht, dass es dafür wichtig ist, eine gemeinsame biblische Vision zu haben. Aufgrund vieler technokratischer Entscheidungen, Strukturen und Finanzen betreffend, ist die geistliche Dimension von Kirche in den Hintergrund gerückt. Durch neue – gemeinsam erprobte Formate – auch geistlicher Natur, soll der Heilige Geist als Wirk- und Identitätskraft in der Region und in die Region hinein gestärkt werden.
Regiolokale Kirchenentwicklung: Raum zum Ausprobieren und Scheitern
Wer darüber hinaus seine eigenen Beweggründe und Motive, Befürchtungen und Hoffnungen kennt und den Mut hat, diese auch mit den anderen zu teilen, ist auf einem guten Weg, Gemeinsames zu entdecken und zu leben. Agilität wird dabei von allen Seiten erwartet; die RLKE ist ein Spielraum, ein Ausprobieren, bei dem Scheitern dazugehört, bei dem Innovation und Exnovation Hand in Hand gehen. Es ist ein Raum, der von Menschen gesteckt und durch Menschen gestaltet wird. Ein Raum, in dem ein tiefes Vertrauen ineinander und in Gott und sein Reich deutlich wird. Hans-Hermann Pompe spricht gar von einer Unausweichlichkeit des Vertrauens: ins System, in die Verantwortlichen, in den Geist. Nur so könne man einander Glanz geben und eine wirkmächtige Diakonie des Miteinanders leben.
Sowohl in ihrem Impulsvortrag als auch in ihrem Buch verzichten Herbst und Pompe darauf, Patentrezepte zu benennen, Tools und Handreichungen aufzuführen. Sie können zu einer Haltungsänderung inspirieren – gelebt, geprobt und gestärkt werden muss diese im Alltag, im gemeinsamen Miteinander, im Blick auf den Gestaltungsraum Region.
Der Impulstag im Westen bot eine fundierte Theorie, hilfreiche Anregungen, Vernetzungsmöglichkeiten und einen breit gefächerten Austausch. Ein Miteinander im Kleinen, um Großes anzustoßen und das Ganze zu verändern. Doch wie soll das Ganze in der Praxis funktionieren?
Herbst und Pompe wollen keine Erfolgsrezepte weitergeben, die man bloß eins zu eins „nachkochen“ muss, damit der Laden wieder läuft. Sie wollen Anstöße geben, einzelne Bausteine weitergeben und von Erfahrungen berichten. Ganz in diesem Sinne bleibt der Übertrag in die Praxis, in den Alltag den Gemeinden vor Ort, den Regionen, überlassen; jedoch mit folgenden Anregungen:
Pfarrer:innen treten einen Schritt zurück. Sind nicht mehr für alles verantwortlich. Sie sind eher Strippenzieher, Ermöglicher, Ermutiger und Anstoßer. Ihre inhaltliche Expertise sowie ihre Fähigkeiten zur Seelsorge und Begleitung der Gemeindemitglieder rücken wieder stärker in den Fokus. Das Priestertum aller Gläubigen wird neu be- und gelebt. Ehrenamtliche sollen die Verantwortung für Gottesdienste übernehmen und sie selbstständig gestalten. Pfarrer:innen müssen nicht mehr bei jedem Gottesdienst anwesend sein. Ähnlich wie viele Gruppen auch schon eigenverantwortlich von Ehrenamtlichen gestaltet und geleitet werden, soll das auch auf Gottesdienste ausgeweitet werden. Durch gemeinsame Projekte, vereinfachte Strukturen durch die Regionalität und abgestimmte Termine und Veranstaltungen erfahren die Gemeinden vor Ort durch die Region Entlastung – und eine Freiheit, sich neu aufzustellen. Durch ein regionales Zusammenwachsen könnten die Ortsgemeinden ihr Profil schärfen und müssten nicht mehr versuchen, alle Zielgruppen gleichermaßen anzusprechen und doch an ihnen vorbei zu agieren.
Klar, das ist ein weiter Weg, der durchaus schmerzhaft ist und auf dem man vieles, auch Liebgewonnenes hinter sich lassen muss. Und trotzdem scheint es der einzige Weg zu sein, der nicht in einer Sackgasse endet. Oder?