Warum ein Generalvikar der Kirche den Rücken kehrt
Es gibt viele Gründe mit der Kirche, mit den Kirchen in Deutschland, zu hadern. Ein Vorwurf, der sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirche immer wieder gemacht wird, ist der, dass Kirche sich von den Menschen entfremdet hat. Dass die geistliche, kirchliche Lebensrealität, der Anspruch an leben, glauben und arbeiten nicht mehr zu dem passt, wie Menschen in und außerhalb der Kirche leben, glauben und arbeiten (wollen). Wenn man Mensch bleiben will, muss man aus der Kirche, aus den menschenfeindlichen Strukturen raus. Das zumindest ist die Erkenntnis, zu der der ehemalige Generalvikar des Bistums Speyer, Andreas Sturm, nach längerem inneren Ringen gekommen ist.
Mensch bleiben
Mensch bleiben ist schwer in einer Kirche, die mit einem Missbrauchsskandal nach dem anderen konfrontiert wird und viel daran tut, die Täter zu schützen und die Opfer klein zu halten.
Mensch bleiben ist schwer in einer Kirche, die die Macht Einzelner manifestiert.
Mensch bleiben ist schwer in einer Kirche, die so oft demütigt und ausgrenzt, statt zu ermutigen und zu befähigen.
Mensch bleiben ist schwer in einer Kirche, die in ihrer eigenen Bubble bleibt, diese feiert und sie von einem fluffig-klebrigen an Kaugummi erinnernden Kreis zu einer jahrhundertealten, starren Steinmauer umbaut.
Mensch bleiben ist schwer in einer Kirche, die menschlichen Beziehungen, der Liebe, der Fürsorge füreinander, nur wenig Raum zur Entfaltung lässt.
Mensch bleiben ist schwer in einer Kirche, die Menschen zu Systemgefangenen, zu Co-Abhängigen, macht und um alles den Deckmantel des Schweigens oder der Rechtgläubigkeit legt.
Mensch bleiben ist schwer in einer Kirche, in der Einzelne viel Macht besitzen, zugleich aber machtlos notwendigen Reformprozessen gegenüber stehen.
Mensch bleiben ist schwer in einer Kirche, die vor allem bleiben will – und nicht mehr werden möchte.
Entfremdung und Distanz
Eindrücklich und schonungslos beschreibt Andreas Sturm in seinem Buch „Ich muss raus aus dieser Kirche: Weil ich Mensch bleiben will“, wie er von ersten, fast noch zögerlichen Irritationen über das Handeln und Denken einiger Kirchenmänner, zu Unverständnis, bald Wut und schließlich zu dem radikalen Schnitt kam, sein Amt als Generalvikar (zweithöchstes Amt in der deutschen römisch-katholischen Kirche nach dem Bischof) niederzulegen und aus der römisch-katholischen Kirche auszutreten. Er rekapituliert seine eigene Geschichte mit dem Glauben und der Kirche. Nah und nahbar, voller starker, kluger Sätze, die man sich am liebsten markieren oder als Erinnerung über den eigenen Schreibtisch (im Kirchenbüro) hängen möchte. Sturm berichtet von der Aufdeckung der Missbrauchsfälle und seiner Rolle bei der Aufarbeitung, über den Leidensdruck vieler Priesterkollegen mit dem Zölibat und der Haltung der katholischen Kirche zu Homosexualität und über die vielen, scheinbar kleinen Unstimmigkeiten, Lieblosigkeiten, Gedankenlosigkeiten, die ihm in den letzten Jahren mehr und mehr auffielen. Er beschreibt den Prozess seiner eigenen Entfremdung, der auch eigenes Versagen, eigene Schuld, eigenes Fehlverhalten nicht ausklammert. Ja, auch er hat sich oft an der Macht, dem Ansehen, erfreut. Ja, auch er hat oft die Strukturen, die Tradition verteidigt, von der er erlebt hat, wie sie Menschen ausgrenzt und leiden lässt. Ja, auch er hat geschwiegen, wenn er eigentlich laut hätte sein sollen.
Lauter als die Stille
Die Zahlen der Menschen, die der (nicht nur katholischen) Kirche den Rücken kehren, sind in den letzten Jahren stetig gewachsen – und ein Ende ist nicht abzusehen. Die meisten gehen still und leise. Teilweise dazu verdonnert. Teilweise, weil sie keine Hoffnung mehr haben, dass ihre Worte gehört werden. Teilweise, weil sie selbst keine Worte mehr dafür haben, anzukreiden, was schief läuft.
„Als ich Generalvikar wurde, hat Bischof Wiesemann mir einmal gesagt, dass wir viel zu oft auf die wenigen lauten Bewahrer hören würden, aber nie auf all jene, die unsere Kirche still und heimlich verlassen haben“ (S. 65), schreibt Andreas Sturm. Auch er war lange still, doch im Sommer 2022 hat er sich entschlossen, diese, seine, Kirche, seine Heimat, zu verlassen – weder still noch heimlich.
Das mediale Echo nach der Ankündigung seines Rücktritts und der Veröffentlichung seines Buches war enorm. Selten hat man auf knapp 200 Seiten so einen tiefen Einblick bekommen, was Kirche und ihre Strukturen mit Menschen machen. Was mit Hoffnung und Leidenschaft geschieht, wenn man ihnen keinen Raum zum Atmen lässt. Hoffnung für seine Kirche hat Andreas Sturm keine mehr. Auch die Bestrebungen des synodalen Wegs hält er für aussichtslos (wenn auch für sehr wichtig). Um neben seiner Hoffnung und seiner Leidenschaft nicht auch seinen Glauben zu verlieren, hat der ehemalige Generalvikar sich nun einer anderen Kirche zugewandt und arbeitet als Seelsorger in der Altkatholischen Kirche. Um ein Mensch zu bleiben. Um ein Glaubender sein zu können.
Andreas Sturm, „Ich muss raus aus dieser Kirche: Weil ich Mensch bleiben will. Ein Generalvikar spricht Klartext“, Herder Verlag, 2022, 18,00€.