inspiriert

Rastplatz für Leib und Seele

31. Oktober

Das Netzwerk der Autobahnkirchen

Eigentlich haben wir einen denkbar unpassenden Ort gewählt für unser Treffen. An einem sonnigen Dienstagvormittag treffe ich Matthias Stracke-Bartholmai in einem Café am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe. Matthias arbeitet für die VRK Akademie – die auch Mitglied im fx-Netzwerk ist – ist dort u.a. für das Netzwerk der Autobahnkirchen zuständig und kommt an diesem Tag  mit der Bahn aus Marburg; ich mit dem Auto aus Iserlohn. Auf meiner Fahrt auf der A44 hätte ich anhalten und schon mal das besuchen können, worum es in unserem Gespräch gehen soll. Eine Autobahnkirche. In meinem Fall, die Autobahnkirche Diemelstadt. Doch Terminstress zwingt mich zur schnellen Fahrt. Und wie so viele lasse ich das Potenzial der Autobahnkirchen unbeachtet. Die Möglichkeit, auf langen Strecken, in der Rush-Hour des Alltags, auf der Überholspur des Lebens, auch mal innezuhalten; Rast zu machen.

Tankstelle für den Geist

Der Hustle-Lifestyle gepaart mit der deutschen Liebe zum Automobil und zur Autobahn ermöglichen ein in der Welt ziemlich einzigartiges Geflecht aus Kirchen in Autobahnnähe. Nirgendwo sonst gibt es entweder überhaupt eine oder zumindest so eine Dichte an Autobahnkirchen.

Die erste Autobahnkirche wurde 1958 in Adelsried gebaut, an der A8 zwischen Stuttgart und München. Der Stifter war ein Unternehmer, der bei einem Unfall ein Familienmitglied verlor. Nach und nach bezeichneten sich auch Dorfkirchen, die in der Nähe einer Autobahn liegen, als Autobahnkirche; andere wurden neu gebaut und so wuchs ein Netzwerk, das sich heute das Netzwerk der Autobahnkirchen nennt. Voraussetzungen: Die Kirchen dürfen maximal im Umkreis von 1km von einer Autobahnabfahrt stehen, besser noch direkt auf einem Rastplatz oder Autohof. Betrieben werden sie mal von einer örtlichen Kirchengemeinde, mal von einem privaten Verein, mal von einer Stiftung oder von Pächtern eines Autohofs. Ziel ist es, Reisenden, Pendler:innen, Fernfahrer:innen und anderen Menschen, die in irgendeiner Form (innerlich) unterwegs sind, einen Ort der Rast für Leib und Seele zu bieten. Auf der Website autobahnkirchen.de wird die Arbeit folgendermaßen zusammengefasst:

„Bereits im Mittelalter wurden dem Wanderer, Pilger und Reisenden Andachtsmöglichkeiten in Form von Kapellen und Kreuzen am Wegesrand angeboten. Sie dienten als Orte des Schutzgebetes und der Besinnung, und sie erinnerten die Menschen daran, sich auch auf Reisen immer wieder auf Gott zu besinnen.
Dasselbe tun die Autobahnkirchen heute. Sie laden ein, zur Ruhe zu kommen, sich zu erholen und zu besinnen. Sie sind ein Gegenpol zum Leben auf der Überholspur, hier können Sie Gott und sich selber finden.“

Anonymer Glaube im öffentlichen Raum

Dabei schätzen es die Hunderttausende Besucher:innen, die jährlich eine der 44 Autobahnkirchen in Deutschland besuchen, in die Stille einzutauchen, eine Kerze anzuzünden, ein Gebet zu sprechen oder sich ins Anliegenbuch einzutragen. Besonders aber auch die Möglichkeit, anonym ihre individuelle Religiosität oder Spiritualität auszuleben, in dem Wissen, dass vor und nach ihnen andere Menschen das ebenfalls getan und genossen haben. Autobahnkirchen bieten die Möglichkeit, einzutauchen in einen heiligen Raum, die eigenen Gedanken zu formulieren, sortieren und als Gebet an Gott abzugeben. Und das bei gleichzeitiger maximaler Anonymität. Nur selten befindet sich eine Pfarrperson oder ein:e andere:r Reisende:r gleichzeitig mit in der Kirche oder Kapelle. Niemand bekommt also mit, was man in den wenigen Minuten der Ruhe und Stille tut. Ob man betet, vor sich hin singt, eine Kerze anzündet oder etwas in das ausliegende Anliegenbuch einträgt. Manche Autobahnkirchen haben einen Kreis von Ehrenamtlichen im Rücken, die regelmäßig für die niedergeschriebenen Anliegen beten.

Gemeinschaft in der Anonymität

Trotz dieser Anonymität bieten Autobahnkirchen auch eine gewisse Form von Gemeinschaftserleben. Gerade auf langen Fahrten (bei einer Urlaubsreise oder weil man als Fernfahrer:in viel unterwegs ist) ist der Bedarf nach Pausen und Erholung groß, und die Autobahnkirchen bieten einen Ort der Auszeit mit einer spirituellen Komponente, die Raststätten nicht bieten können. Das religiöse Angebot ist oft niederschwellig und barrierefrei gestaltet, was die Hemm- und Milieuschwelle senkt, die Räume zu betreten und für Momente der Ruhe oder des Gebets zu nutzen. Hin und wieder finden Aktionen statt, an Weihnachten werden oft warme Getränke und Essen an die Fernfahrer:innen verteilt, in der Ferienzeit gibt es Reisesegen, zuweilen finden auch Konzerte oder andere – regelmäßige – spirituelle Angebote statt. So erfahren die Autobahnkirchen und -kapellen nicht nur Zulauf von Leuten von außerhalb, auch Anwohner:innen der Region nutzen diese Angebote, um geistlich aufzutanken und Teil einer religiösen Gemeinschaft zu sein.

Thematische oder örtliche Profilierung

Viele dieser Kirchen orientieren sich in ihrer Gestaltung an Naturthemen oder traditionellen christlichen Symbolen, zudem spielen sie auch architektonisch mit Licht und Schatten und kreieren einen heiligen Raum. Auch haben die Autobahnkirchen zum Teil unterschiedliche Schwerpunkte – je nach Region und Organisatoren. In einigen Kirchen ist das Thema „Reise und Schutz“ zentral, andere betonen die Thematik „Rast und Einkehr“, andere überzeugen mit einem besonderen Lichtkonzept, Meditation oder Stille. Und nicht nur die thematische Ausrichtung, die Profilierung ist besonders, erklärt mir Matthias Stracke-Bartholmai. Besonders ist auch, dass Autobahnkirchen ihrer Zeit voraus sind: „Etliche Autobahnkirchen müssen schon lange ohne (viel) Personal und Geld auskommen und haben andere Wege beschritten, wie sie dennoch relevant und wirklich offen für jeden sein können. Autobahnkirchen überraschen auch, weil sie in einem Kontext auftauchen, in dem man nicht damit rechnet.“

Das ungeahnte Potenzial der Autobahnkirchen

Trotzdem wird Autobahnkirchen nur wenig Beachtung geschenkt. Einige belächeln sie sogar, kritisieren die ökumenische und spirituelle Weite und das nur punktuelle Versorgungsangebot. Dabei steckt in ihnen viel Potenzial. Das sieht auch Matthias: „Das Spannende ist, dass Kirchen vielfach erproben, wie man Kirche selbstverwaltet und selbstfinanziert organisieren kann – das machen Autobahnkirchen mit einem großen Selbstverständnis. Außerdem engagieren sich dort auch Menschen, die sich nicht in einer verfassten Kirche engagieren oder diese regelmäßig besuchen würden. Und sie werden von Menschen aus ganz verschiedenen Kontexten und Milieus besucht. So schaffen es Autobahnkirchen, dass wirklich unterschiedliche Menschen zusammenkommen.“

Am Ende dieses Gesprächs nehme ich, neben vielen interessanten Infos rund um Autobahnkirchen auch das Vorhaben mit: Auf meiner nächsten Fahrt nach Kassel, mache ich Rast an der Autobahnkirche in Diemelstadt.

Autorin, Lektorin, Redakteurin von Beruf. Im Fresh X-Netzwerk und an der CVJM-Hochschule. Mitarbeitende, Mitdenkende, Mitgestaltende in Kirche. Suchende, Sehnende, Scheiternde, Fragende, Findende, Fordernde im Privaten.