Impulse für Gemeinden zum Umgang mit verschiedenen Lebensmodellen
»Die Lebensrealitäten der Menschen in unserem Land sind so vielfältig, dass es höchste Zeit ist für eine Kirche in vielfältiger Gestalt« – das ist eine der Überzeugungen der Fresh X-Bewegung. Diese vielfältigen Lebensrealitäten beinhalten nicht nur Milieu, Beruf und Alltagsgestaltung, sondern genauso die – freiwillig oder unfreiwillig gewählte – Beziehungssituation, in der Menschen sich befinden. Das wird jedoch in den meisten Gemeinden wenig berücksichtigt – sagen zumindest die, die nicht in »klassischen Familienkonstrukten« leben. Viele Singles geben an, sich oft stigmatisiert und nicht verstanden zu fühlen, weil der Fokus auf Familien und deren Themen, Bedürfnissen und Anforderungen liege. Und es stimmt: In zahlreichen Predigtbeispielen, bei Veranstaltungszeiten und in Kommentaren werden explizit und implizit meistens bestimmte Lebensmodelle priorisiert oder sogar favorisiert und als besonders erstrebenswert dargestellt. Das idealisierte Bild der gutbürgerlichen Kleinfamilie – glücklich verheiratete, heterosexuelle Eltern mit zwei bis drei Kindern, die in einem gemeinsamen Haus wohnen –, teils gepaart mit konservativen Werteinstellungen, herrscht hartnäckig als christlicher Idealzustand vor.
Es geht mir nicht darum, das Lebensmodell der »gutbürgerlichen Kleinfamilie« abzuwerten, sondern zu hinterfragen, warum es in Gemeinden als so dominierend erlebt wird. Dabei gehe ich davon aus, dass dies weder beabsichtigt ist noch – in den meisten Fällen – bewusst reflektiert wird. Und genau das muss sich ändern, wenn sich auch diejenigen wohlfühlen sollen, die anders leben (wollen). Das betrifft Singles, aber nicht nur. Es gibt unterschiedlichste Lebensverläufe und -weisen, die von dieser vermeintlichen »Norm« abweichen. Und so ist vorprogrammiert, dass Menschen sich ausgeschlossen fühlen und in Gemeinden als fremd wahrnehmen. Denn vielerorts wird zwar lautstark »alle sind willkommen« verkündet, Vielfalt in all ihren Dimensionen aber dennoch wenig bewusst geachtet, gefördert und gefeiert.
Echte Begegnungen mit anderen Menschen auf Augenhöhe
Meine These lautet daher: Je mehr Vielfalt wir in Gemeinden und der Gesamtheit der Kirche wirklich leben und zelebrieren, desto weniger müssen einzelne »Gruppen« besonders in den Blick genommen werden, um sich zugehörig zu fühlen. Von der Fresh-X-Bewegung können wir lernen, Vielfalt in den Blick zu nehmen und wertzuschätzen und mit einer großen Bandbreite an Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen eine geistliche Heimat für alle zu gestalten.
Dazu gehört die Überzeugung des »Hingehens und Bleibens«. Das Ziel ist nicht, neue Besucher:innen für bereits stattfindende Formate zu gewinnen, sondern Menschen ergebnisoffen in ihrer Lebenswelt kennenzulernen. Dabei ist Fresh X nicht als eine Bewegung entstanden, die explizit Singles oder die Diversifizierung einzelner Gemeinden fördern wollte. Aber Fresh-X-Akteur:innen vertrauen darauf, dass dort, wo die Menschen sind, eine frische Ausdrucksform von Kirche entstehen kann, die für den jeweiligen Kontext stimmig ist. Und das bezieht auf ganz natürliche Weise Singles mit ein.
Wenn wir also Gemeinde bewusst singlefreundlich gestalten wollen, bedeutet das zunächst, rauszugehen, mit Singles in Kontakt zu kommen, ihnen aufmerksam zuzuhören, um ihre Perspektive und ihr Erleben kennenzulernen. Es bedeutet, sich ehrlich auf eine andere Lebenswelt einzulassen und empathisch zu sein. Dabei wird man schnell feststellen, dass es nicht darum geht, Singles besser kennenzulernen, sondern Menschen. Menschen, in deren Lebenswelt nicht nur der Beziehungsstatus eine Rolle spielt: Hinhören ist keine Gemeindeaufbaustrategie. Vielmehr müssen wir uns fragen, ob wir ein ehrliches Interesse an Menschen haben, die vermutlich anders – manchmal sehr anders – leben als wir selbst. Und ob wir mit ihnen eine Gemeinschaft gestalten wollen, die am Ende vielleicht nicht so aussehen wird, wie wir es selbst erwartet hätten. Es können Ideen entstehen wie: »Der nächste Supermarkt ist weit weg und die Busanbindung schlecht – können wir gemeinsame Einkaufaktionen planen?« An anderen Orten sind durch die genannte Frage Co-Working-Spaces entstanden, weil Freelancer:innen ein Ort zum Arbeiten fehlte und sie sich nach Gemeinschaft sehnten. Wieder woanders bestand das Evangelium darin, ein für alle offenes Abendessen auszurichten.
Gemeinde ist Gemeinschaft von und mit Menschen
Unseren Gott macht aus, dass er immer wieder neu auf dem Weg zu seinen Menschen ist. Diese Mission Gottes, seine »Sich-selbst-Sendung« in unsere Welt, ist die Grundlage dafür, dass wir uns selbst senden lassen. Wie Jesus unser Nachbar wurde und nebenan wohnte (Johannes 1,14), wollen auch Fresh-X-Akteur:innen Leben mit anderen teilen. Einige bewegt das dazu, sich Menschen zu suchen, mit denen sie bewusst neue Gemeinschaftsformen ausprobieren. Sie ziehen in WGs oder die gleiche Gegend und überlegen gemeinsam, welche Formen für das geteilte Leben stimmig sind. Nicht jede:r ist der Typ für intensives gemeinschaftliches Leben, daher muss das jeweils gut und sorgfältig überlegt werden. Manche einigen sich auf ein Essen in der Woche, andere auf gemeinsame Gebetszeiten oder Abende, an denen man etwas unternimmt. So leben Menschen mit Kleinfamilie oder Großfamilie, Singles, Menschen in Trennung oder in Fernbeziehung zusammen.
Dahinter steht die Überzeugung, dass das Evangelium am besten in Gemeinschaft zur »guten Nachricht« werden kann – inspiriert vom Beziehungsmodell Gottes. Gott wird im christlichen Glauben als Beziehungsgeschehen geglaubt – Vater, Sohn und Heiliger Geist, die miteinander in einem göttlichen Tanz verwoben sind. Doch ihre Gemeinschaft ist nicht abgeschlossen. Der göttliche Tanz ist durchlässig und will uns Menschen in die göttliche Dynamik mit hineinnehmen.
Die Frage ist also: Wie können auch unsere Beziehungen und Lebensmodelle »durchlässig« werden, damit andere daran teilhaben können? Darauf gibt es – wie auf die wenigsten Fragen – keine One-Size-Fits-All-Antwort. Doch vielleicht kann bereits die Frage dazu anregen, das eigene Lebensmodell diesbezüglich zu reflektieren, wie andere einbezogen werden können.
Alltag ausprobieren, gemeinsamen Alltag leben
Ich wünsche mir, dass Gemeinden Orte werden, in denen verschiedene Alltagsmodelle erprobt und gelebt werden – gegen die Vereinzelung in der Gesellschaft. Dabei geht es um das Wesen Gottes und wie wir dieses für uns und andere erfahrbar machen können. Und es geht um eine Art und Weise, Gemeinde zu denken und zu leben – nämlich von ihrer Sendung zu den Menschen her. Diese Haltung verändert. Sie lässt mich meine Vorstellung von »Normalität« reflektieren. Und sie lässt mich fragen: »Wer ist (noch) nicht hier und warum eigentlich nicht? Wer kann und will sich bei uns nicht beheimaten? Wie sieht der Alltag dieser Menschen aus und wie kann ich ihnen in ihrem Alltag begegnen, Leben mit ihnen teilen und gute Nachricht für sie sein?«
Wenn wir den Spuren folgen, die durch diese Fragen entstehen, werden auch diejenigen, die dies jetzt noch nicht ausreichend tun und können, ihren Platz finden und Kirche mitgestalten.