Dass sich nun alles verändern würde, hatten sie nur langsam verstanden. Schließlich waren sie ja noch zusammen – auch wenn jemand fehlte. Im Schock versammelten sie sich. Nicht in großer Runde, die gab es nicht mehr. Die konnte es ohne ihn gar nicht mehr geben. Aber die Kerngemeinde war noch da. Das Begonnene musste doch irgendwie weitergehen. So trafen sie sich, tauschten ihre Sprachlosigkeit aus, gingen ihren Aufgaben und Verpflichtungen nach wie zuvor − die Frage verdrängend, wie das überhaupt noch Sinn ergeben könnte. Ohne ihn.
Was dann kommen würde, bekamen zwei von ihnen gar nicht mit. Sie waren losgezogen, waren verabredet gewesen in dem Dörfchen Emmaus. Ein langer Fußweg lag vor ihnen – elf, vielleicht zwölf Kilometer. Sie nutzten die Zeit, um ihren Druck abzulassen, einander ihr Leid zu klagen. Wo war ihre Hoffnung geblieben, ihre Zukunft? Sie hatten doch ihr Bestes gegeben, alles nach bestem Wissen und Gewissen getan. Hier, unter vier Augen, konnten sie nicht mehr leugnen, dass sich nun etwas ändern musste. Auch nicht, dass sie sich nun ändern mussten.
Und während sie so miteinander beschäftigt waren, kamen neue Fragen hinzu. Doch die stellte jemand anderes. Denn da begleitete sie plötzlich jemand auf ihrem Weg: offensichtlich unwissend und unbequem, ein bisschen nervig. Er stellte Fragen, die sie nicht hören wollten. Die bereits beantwortet schienen. Und die für sie gerade nicht mehr relevant waren. Denn: Es war doch vorbei! Was inzwischen zu Hause geschehen war und auch ihnen gerade passierte, das wussten sie nicht, das blieb ihren Augen verborgen. Erst spät am Abend, als sie gemeinsam am Tisch das Brot mit diesem Fremden brachen, gingen ihnen die Augen auf.
Eine Emmaus-Geschichte. Vielleicht etwas anders erzählt als üblich und doch im Kern das, was sich am Ende des Lukasevangeliums lesen lässt: Die beiden Jünger hatten sich auf den Weg gemacht, bevor sie die turbulenten Nachrichten von der Auferstehung erreichen konnten. Unterwegs begegneten sie dem auferstandenen Jesus, ohne ihn zu erkennen. „Brannte uns nicht das Herz?”, fragten sie sich später, als sie begriffen, dass der Fremde genau jener war, um den sie getrauert hatten.
Wie viel hat so eine Erzählung mit dem zu tun, was wir heute erleben? Wie viel mit dem, was die Kirche sich und anderen für morgen verspricht? Was lässt sich aus dieser Erzählung für die Zukunft der Kirche lesen? Und was hat das mit Ökumene zu tun?
Mitten in der Zeitenwende
Eins ist klar: Die Emmaus-Geschichte ist keine klassische Bibelgeschichte, die man zu ökumenischen Fragestellungen vorträgt. Dafür eignen sich zum Beispiel die Pfingsterzählungen viel besser. Denn da geht es um Aufbruch – und das ist schließlich „schön, bunt und laut“. Seltsam eigentlich, denn das verbindet man landauf, landab mit Ökumene kaum (noch).
„Brannte nicht unser Herz?” – Die Emmaus-Erzählung hat einen festen Platz in anderen Zusammenhängen sterbender volkskirchlicher Strukturen: zum Beispiel im Nachdenken über Erstkommunionkatechese oder in der Entwicklung neuer Gottesdienstformen. Also oft dann, wenn irgendetwas nicht mehr so richtig funktioniert. Warum erzählt man in diesen Kontexten nicht von dem lauten Toben und dem quicklebendigen Durcheinander? Und warum wird die Emmaus-Geschichte nicht bei Trauer und Abschied in ökumenischer Weite erzählt?
Wir spüren: Es gibt keine „gewöhnlichen“ Geschichten mehr. Keine, die man selbstverständlich erzählen kann. Und keine, die wie selbstverständlich erzählt werden sollten. Alles ist anders – und beim Weitermachen auf der Suche nach Zukunft, nach Veränderung, nach neuen Formen von Kirche müssen wir diese Unsicherheiten aushalten, sie vielleicht selbst ganz bewusst suchen, produzieren und provozieren. Und das schließt die Unsicherheiten vermeintlich bekannter Texte der Bibel genauso ein wie das Wagnis ökumenischer Weite.
Denn wir spüren auch: Es gibt keine Standards mehr. Falls es sie jemals gegeben hat! Kirche ist an einer Zeitenwende angelangt – wie bei den Jüngern in der Emmaus-Erzählung. So wie sie stehen wir inmitten einer Zeit, in der wir langsam begreifen, dass wir uns längst in einem radikalen Wandel befinden. Ihre Geschichte lässt sich genauso erzählen, wie es uns heute geht.
Doch wenn das so ist und wenn man diese Emmaus-Erzählung dahingehend ernst nimmt, zeigt sich: Zeitenwenden im geistlichen Sinn vollziehen sich dann, wenn man sich entscheidet, Fragen zuzulassen – die ganz grundlegenden, die nach der eigenen Hoffnung, nach dem Glauben und nach der Liebe. Und wenn man sich entscheidet, zuerst zu hören – wie es Jesus in der Erzählung eben tut. So ähnlich ist das mit der Zeitenwende für die Zukunft der Kirche und das gilt gleichermaßen für ihre ökumenische Dimension wie für die Entwicklung neuer Formen kirchlicher Sozialgestalten: Die Wende ist erst vollzogen, wenn neue Fragen Platz haben. Und: Wenn Neue, Andere, Fremde ihre Fragen stellen dürfen.
Hören, Sehen, Wahrnehmen
Zweimal ist in der Emmaus-Geschichte die Rede von den Augen der Jünger: Wie sie „(zu)gehalten“ sind, und wie sie „geöffnet“ werden. Das Hören, Sehen und Wahrnehmen ist eine entscheidende Aufgabe in der Nachfolge des Auferstandenen. Ein Offen-Sein für diese neuen Fragen, für das Andere und die Fremde.
Der ehemalige Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, war nicht nur ein entscheidender Unterstützer der Bewegung der Fresh Expressions of Church. Er ist schon immer und bis heute ein Ökumeniker mit Herzblut. Bei einem Empfang des Ökumenischen Rates 2012 soll er gesagt haben: „Unity is asking who is not here yet.“ Frei übersetzt: Die Frage der Einheit ist immer auch eine, die danach fragt, wer noch nicht da ist.
Diese flammende Werbung für eine missionarische Grundhaltung im kirchlichen Handeln sensibilisiert für den anderen und die andere. Der Fokus ist hier auf diejenigen gerichtet, die in der Kirche schmerzlich vermisst werden, weil sie entweder (noch) nicht da sind oder nicht mehr. Uns bietet sich die Chance zur ehrlichen Selbstreflexion. Es geht nicht um eine akquirierende Vereinslogik, um Mitgliedschaftsstatistiken oder Kirchensteuereinnahmen. Und bei Ökumene geht es auch nicht darum, Vielfalt zu vereinheitlichen. Eine solche missionarische Haltung misst vielmehr den Menschen außerhalb der eigenen kirchlichen Strukturen eine große Bedeutung zu. Sie sind Gottes Geschöpfe, jede und jeder einzigartig. Ihnen allen gilt Gottes Liebe. Darin sind wir mit ihnen verbunden. Hier sind sich die missionarische und die ökumenische Haltung Schwestern. Beide haben das Charisma, die Fixierungen auf eigene vertraute Gegebenheiten und gewohnte Sicherheiten zu verlassen und sich neugierig umzuschauen – den Blick zu weiten, eben: die Augen zu öffnen. Unvoreingenommen und voller Vertrauen auf unsere Sendung und den zugesagten Beistand. Oftmals bergen solche missionarischen und ökumenischen Aufbrüche die Chance einer Emmaus-Erfahrung: Mit wem bin ich unterwegs? Welche sichtbare und unsichtbare Begleitung fällt mir erst jetzt auf? In welchen vertrauten und fremden Menschen begegne ich Jesus und lerne Gott noch einmal neu kennen? Es sind die Augen, die wir offen halten müssen. Und es ist das gemeinsame Unterwegssein in Vielfalt und Verschiedenheit, das uns zeigen kann, dass da immer einer mehr mit uns ist. Und dass seinetwegen unser Herz brennt.
Dass sich nun alles verändern würde, das lernen die beiden Wanderer gen Emmaus gerade zu verstehen. Sie sind zusammen auf dem Weg. Und die, die fehlen, nach denen beginnen sie nun zu fragen. Im Schock waren sie lange genug gewesen. Und auch wenn es keine allzu großen Runden mehr werden, jedenfalls nicht so oft, wissen sie, dass sie sich auf ihn verlassen können. Er ist bei ihnen. Und so wird es weitergehen und sie werden weitergehen, sich verändern und die Welt.
Diesen Artikel schrieben Maria Herrmann und Sandra Bils zuerst für das Magazin 3E, das in der Ausgabe 03/2020 einen Schwerpunkt auf Fresh X setzte.