inspiriert

Was Kirche vom ‚Flipped Classroom‘ lernen kann

26. Mai

Vorgestern weckte die Headline „Raus aus der Höhle“ in der ZEIT mein Interesse. Hannah Schultheiß, in den 1990er Jahren geboren, fragt, warum so wenige Menschen aus dem Häuschen geraten. Es ist doch Frühling, und die Inzidenzen sind nur noch 1/5 so hoch wie Ende März. Jetzt, wo wir scheinbar gelernt haben, mit dem Virus zu leben, könnte man doch mal wieder etwas unternehmen. Doch die Autorin stellt fest: „Heute stressen mich größere Gruppen.“ Die Wissenschaft hat sogar einen Namen dafür: Cave-Syndrom. Nach einer langen Phase der Zurückgezogenheit sind wir überfordert von der Komplexität sozialer Interaktion. Einige Forscher meinen, dass der Shift von einer kollektiven zu einer individualisierten Identität dauerhaft sein wird. Die Angst, etwas zu verpassen, hat sich in eine Joy of missing out gewandelt.

Veranstaltungs- vs. Beziehungskirche

Diesen Jetlag spüren wir auch im kirchlichen Leben. Im Vergleich zu 2019 sind Gottesdienste vielerorts nur zu 50-70% gefüllt. Manche hoffen, mit der Zeit kämen die Menschen schon wieder. Doch womöglich ist die Verlagerung der Glaubenspraxis in den persönlichen und häuslichen Kontext während der Pandemie ja tatsächlich ein nachhaltiger Trend. Was einem Kraft gibt und gut durch den Tag kommen lässt, wurde zum Gesprächsthema in Familien, Freundeskreisen und Nachbarschaften. So entstanden vielerorts kleine, geistliche Weggemeinschaften, mit selbstorganisierten Formen von Spiritualität und seelsorgerlich ausgerichtet. Während die ‚Veranstaltungs- und Versorgungskirche‘ mit ihrem Angebotscharakter durch Corona stark eingeschränkt war, kam die ‚Beziehungskirche‘ in den sozialen Netzwerken zum Vorschein. Daniel Hörsch, Sozialwissenschaftlicher Referent bei midi, spitzte es zu: „Wir sind nun genötigt, als Kirche den Rückzug des Religiösen ins Private zu begleiten.“

Multiplikatorische Ermutigungskirche

Das Verhältnis der Gläubigen zur Kirche und die Rolle der beruflich Mitarbeitenden könnte sich dadurch nachhaltig verändern. Organisierte die Kirche zuvor primär das Erleben gemeinschaftlicher Spiritualität, ist die Frage künftig vielmehr:

Wie kann die Selbstverantwortung für eine alltagstaugliche, spirituelle Praxis des Einzelnen gefördert werden – im Sinne eines Christseins als Lebenskunst?

Die Kirche muss also den Shift vom Modus des Versorgens zum Modus des Empowerns bewältigen. Konkretes Beispiel: Nicht die Verkündigung im sonntäglichen Gottesdienst, sondern die Befähigung von Menschen, das Evangelium in ihren Lebenswelten zu kommunizieren, wäre künftig Hauptaufgabe von Pfarrpersonen. Sie multiplizieren ihre theologische Denk- und Sprachfähigkeit. Vielleicht steht die Kirche vor einem ähnlichen Wandel, der sich im Schulsystem mit dem Begriff ‚Flipped Classroom‘ verbindet – zu deutsch etwa: Umgekehrter Unterricht. Bei dieser Methode des integrierten Lernens werden klassische Stoffvermittlung im Unterricht und Hausaufgaben vertauscht: Die Lerninhalte werden von den Lernenden zuhause anhand bereitgestellter Materialien selbst recherchiert und erarbeitet. Im Unterricht, in dem alle zusammenkommen, geschieht nur die Erörterung und Anwendung. War die Schule früher ein Ort der deduktiven Wissensvermittlung, verlagerte sich die Wissensaneignung örtlich und zeitlich in den häuslichen Kontext und zu einer induktiven Herangehensweise. Dies könnte auch eine Perspektive für Kirche in einer individualisierten Gesellschaft sein.

AMD-Generalsekretär und Referent für missionarische Kirchenentwicklung bei mi-di.de