Ein Morgen in der Woche nach Ostern 2019. Zwei Frauen stehen an der Gabelung von Schulterblatt und Schanzenstraße im kleinsten und lebendigsten Stadtteil Hamburgs, dem Schanzenviertel. Die Morgensonne wirft den Schatten der Frauen und des Straßenschilds auf den Bürgersteig.
Ich stelle mich schnell dazu, bitte die beiden, stehenzubleiben und drücke auf den Auslöser meiner Kamera. Auf dem Straßenbelag bilden unsere Umrisse zusammen mit dem Schatten des Straßenschildes eine klassische Osterdarstellung, wie sie in der Kunst über Jahrhunderte hinweg unzählige Male gemalt wurde. „Ach so“, sagt eine der Frauen. Wir lachen kurz. Dann gehe ich weiter.
Zack, so schnell kann es gehen. Ein flüchtiger Moment. Drei Menschen und das Unverfügbare des Augenblicks. Die Sonne, der Schatten, die Begegnung, das Erkennen, das Lachen, die Verabschiedung. Für mich ist dieses Erlebnis aus dem Jahr 2019 zu einer Sehhilfe geworden.
An besagtem Tag war ich unterwegs zum Jesus Center am Schulterblatt. Seit ich wieder in Hamburg lebe, stehe ich dort immer wieder an der Theke des Cafés Augenblicke. Unsere Gäste sind Menschen in besonderen Lebenslagen. Ein Kaffee kostet 50 Cent. Ein warmes Essen gibt es ab 1,20 Euro. Es gibt Duschen, eine Kleiderkammer, Beratung. Das sind vordergründig wichtige Hilfen. Aber das Jesus Center ist so viel mehr.
Als sich vor mehr als 50 Jahren junge Baptisten aufmachten, missionarisch in St. Pauli unterwegs zu sein, war St. Pauli Nord, das heutige Schanzenviertel, ein einziges Armenhaus. Die motivierten Christen, die den Menschen „das Evangelium“ bringen wollten, wurden sehr schnell mit der Realität konfrontiert, dass die Armen, Süchtigen, Einsamen nicht als Erstes eine Predigt brauchten.
Die Mütter und Väter des Jesus Centers ließen sich immer wieder vom Leben selbst leiten, also von dem, was ihnen an Gutem und Schwierigem begegnete. Im Zweifels- und Konfliktfall wurde (fast) immer zugunsten der sozialen Arbeit und der Offenheit entschieden. In den 1980er Jahren gab es den Versuch, eine Jesus Center-Gottesdienstgemeinde zu gründen. Damals hatten sich in einer Zwischenphase Kräfte durchgesetzt, die einen mehr missionarischen Kurs durchsetzen wollten. Sie scheiterten krachend.
Das heißt aber nicht, dass es seitdem im Jesus Center keinen Gottesdienst und keine Gemeinde gibt. Denn jetzt kommt die Sehhilfe ins Spiel: Wer ins Jesus Center geht, geht nicht zur Arbeiterwohlfahrt. Damit sind die Vorzeichen geklärt, unter denen alles geschieht (Votum). Die Gäste kommen, weil sie eine Hoffnung haben. Wer hofft, glaubt schon. Jeder bringt dabei etwas Wertvolles mit. Gemeinschaft entsteht (Gemeinschaft der Heiligen).
Oft genug müssen die Mitarbeitenden für ihren Glauben geradestehen und Fragen beantworten. Hier gibt es keine Predigt, hier wird um tragende Wahrheit gerungen. Essen und Leben werden geteilt; und vor allem erleben wir hier, dass Menschen und Wege sich ändern (Sakrament). Und das alles gilt nicht nur für die Gäste des Cafés Augenblicke, es gilt für alle. Niemand kommt ohne Grund. Auch ich nicht. Ich bin Teil dieser Gemeinschaft. Sie trägt auf eine ganz besondere Weise.
Es hat mich verstört, dass im Zusammenhang mit den Lockdowns in entstellender Weise über den Gottesdienst gesprochen wurde. Ja, sonntags konnte sich keine traditionelle Gemeinde versammeln und so weiter. Aber das tut sie ja ohnehin kaum noch. Und?
Kirche, Gemeinde und sogar Gottesdienst braucht niemand „machen“. Es sind Dinge, die geschehen und werden sichtbar, wenn der Blick dafür geschärft wird. Von der Theologin Sandra Bils habe ich dafür den Begriff „Gott auf die Schliche kommen“ übernommen. Wahrnehmen ist eine Grundtugend in Gestaltungsprozessen und darum ein unverzichtbarer Bestandteil der Fresh X-Kultur. Es ist eine grundlegende Haltung des Findens und Entdeckens. Immer wieder. Unaufhörlich. Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!