Wenn ein diakonisch arbeitender Verein und eine Kirchengemeinde sich verbünden
Der Blick schweift über den Tollensesee, vorbei an viel Grün. Sieht die kleine, von einer Stadtmauer und Grünfläche umrandete, Altstadt. Von dort aus wendet man sich Richtung Norden, leicht rechts, die Demminer Straße hoch, vorbei an Industrieflächen. Auf einem kleinen Hügel befindet sich auf der rechten Seite schließlich der Datzeberg. Eine in der DDR entstandene Plattenbausiedlung, deren Hochhäuser das Stadtbild von Neubrandenburg fast mehr prägen als die vier noch erhaltenen Tore der mittelalterlichen Stadtmauer oder die St. Marien-Kirche mit ihrem rund 90m hohen Kirchturm. Dort auf dem Datzeberg lebten einst 10.000 Menschen in den teilweise 14-stöckigen Hochhäusern, inzwischen hat sich die Bewohnerzahl des Stadtviertels rund halbiert, und einige der riesigen Betonbauten sind etwas kleineren Mehrfamilienblöcken gewichen. Auch hier gibt es überraschend viel Grün. Bäume, Wiesen, Kleingärten. Spielplätze und Sportplätze. Die meisten Menschen, die hier leben, kommen monatlich mit einem recht geringen Einkommen oder mit Transferleistungen über die Runden kommen. Kein angesagtes, hippes Viertel.
Gemeinschaft und Gestaltung
Doch genau in diese Umgebung, in diese Plattenbausiedlung haben sich ein „paar Verrückte“ im Jahr 2007 verliebt. Genau hier wollten sie hin. Hier Gemeinschaft leben. Und Schönes schaffen. Entstanden sind eine Community nach klösterlichem Vorbild und kurz danach der Verein Polylux, die gemeinsam mit den rund 4.800 verbliebenen Datzeberger Einwohnern im Viertel, im Hochhaus, leben und getreu ihrem Vereinsmotto mit den Bewohnern „was Schönes machen“ wollen. Und so wurden in den letzten Jahren verschiedene Angebote realisiert – oder wurden in Zusammenarbeit mit der Diakonie, der Caritas oder anderen sozialen Trägern bereichert: Hausaufgabenhilfe, Lagerfeuerabende, Familiennachmittage, Fußballturniere, gemeinsame Weihnachtsfeiern und Nachbarschaftsfeste, ein Filmprojekt, ein Raum der Stille (die Kapelle) als Oase im Betongrau und ganz viel Gemeinschaft.
Dabei kam es den Zugezogenen vor allem darauf an, erst einmal wahrzunehmen, was da ist: Wer sind die Leute, die dort leben? Welche Fragen, Sorgen und Freuden bestimmen ihr Leben? Was wünschen sie sich? Was sind ihre Sehnsüchte? Mit dieser hörenden Haltung und der Prämisse, keine Fragen zu beantworten, die gar nicht gestellt wurden, trugen sie zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl auf dem Datzeberg bei – und schufen so, quasi nebenbei, eine Form von Kirche. Eine Kirche, in der sich alle auf Augenhöhe begegnen und gemeinsam auf die Suche nach einer völlig neuen Art von Spiritualität machen.
Kooperation von Kirche und Verein
Auch die nahegelegene St. Michael-Gemeinde, zu der das Datzeviertel als Einzugsgebiet gehört, ist begeistert von der Art und dem Engagement der Polyluxer. Genau so etwas hat es auf dem Datzeberg gebraucht! Eine freundschaftliche Beziehung zwischen dem Verein und der Kirchengemeinde entsteht; gemeinsam wollen sie Kirche neu denken. Neue Formen von Spiritualität entdecken. Eine hörende Haltung einüben und den Menschen auf Augenhöhe begegnen. Eine Gemeinde der Nähe sein. Gemeinsam etwas Schönes machen. Nun ist aus der freundschaftlichen Verbundenheit auch eine strategische, eine strukturelle Verbundenheit geworden. Mitte Oktober verkündeten die St. Michael-Gemeinde und der Verein Polylux, dass sie im Rahmen des (gemeinsamen) Projektes „Kirche auf dem Datzeberg“ eine – nun auch verfasste – Kooperation eingehen. „Die Idee ist, das nicht nur als formalen Akt zu machen, sondern es gemeinsam zu gestalten. Die Leute aus der St. Michael-Gemeinde sind explizit eingeladen, mitzuwirken, wenn sie Bock oder Ressourcen dafür haben“, erklärt Ralf Neumann, Vorsitzender von Polylux. „Hinter dem Verein steht eine Community, also eine klösterliche Gemeinschaft, ein Verein, verschiedene Projekte, die wir machen – all das ist ein Ausdruck von Kirche. ‚Kirche auf dem Datzeberg‘ ist nun eine Konkretion dessen im geistlichen Bereich. Es soll ein Ort sein, wo sich Prozesse der Menschen mit Gott verdichten. Es heißt aber nicht, dass wir den geistlichen Bereich nun an die Kirche auslagern.“
Jörg Albrecht, Pfarrer in der St. Michael-Gemeinde stimmt zu: „Ihr seid Gemeinde. Das ist mir ganz wichtig. Ihr seid nicht Gemeinde, wenn wir gemeinsam sonntagsmorgens um zehn einen Gottesdienst feiern. Darauf ist unsere Gemeinschaft nicht ausgelegt. Wir wollen stattdessen das Verständnis von Gemeinde öffnen und den Leuten auf dem Datzeberg zusprechen: Bitte macht bloß so weiter wie bisher und wir gucken, wie wir euch dabei unterstützen können. Als Kirchengemeinde sind wir sozial und soziologisch breiter aufgestellt, müssen auch viel breiter und weiter gucken. Wir lassen uns nun, von der Chance, auf dem Datzeberg fokussierter zu arbeiten, inspirieren.“
Gemeinschaft der Nähe
Damit geht Polylux einen Weg, der auch für andere Gründungen, Start-ups und Initiativen aus dem Kontext der fresh expression of church interessant sein könnte: Eine strategische und strukturelle Kooperation mit einer verfassten Kirche einzugehen, eine neue Form von Kirche zu werden, ohne sich denselben strukturellen Rahmenbedingungen eins zu eins unterwerfen zu müssen. Quasi eine Co-Existenz neben einer bestehenden verfassten Kirche – und das in der Form, die das Projekt eben mitbringt, also egal, ob als Verein, GmbH, Genossenschaft oder Gemeindegründung.
Ausgangsfrage für die Kooperation war die Tauffrage, wie Albrecht und Neumann in einem Pressegespräch erläuterten. Wohinein sollten die Leute vom Datzeberg getauft werden? In den Verein? Nein. In eine den Menschen fremde Gemeinde. Nicht unbedingt. In eine neue Form von Kirche, in die gesamte Verbundenheit der Christen auf der Welt – ausgedrückt hier vor Ort in der „Kirche auf dem Datzeberg“? Ja.
Form einer Kirche der Zukunft
Nun gibt es also in dem Plattenbauviertel nicht nur eine religiöse, sondern auch eine kirchliche Präsenz. Ein echtes Novum in dem noch aus DDR-Zeiten stark atheistisch geprägten Umfeld. Den meisten Bewohnern dort, ist diese Kooperation völlig schnuppe. Nur wenige haben bisher einen Weg in eine Kirchengemeinde gesucht – und das ist auch völlig okay. Die Kooperation ist keine Missionierungsmaschine, sondern ein breit aufgestelltes Angebot an Menschen, sich gemeinsam auf die Suche nach dem Schönen im Leben, nach Mehr, nach Gott zu machen.
Vielleicht auch eine Form der Kirche der Zukunft. Eine Möglichkeit, Gemeinde der Nähe zu sein. Eine Gemeinde zu sein, die die Leute in ihrem Einzugsbereich tatsächlich auch erreicht, nicht in dem sie sich zurücklehnt, weil sich jetzt ja andere um die eigenen Schäfchen kümmern, sondern weil man sich als Team versteht. Als Team mit verschiedenen Stärken und unterschiedlichen Bezugspunkten. Als gemeinsame Visionäre auf der Suche nach Gottes Idee für die Menschen vor Ort.