inspiriert

Ein Abenteuerleben ohne fromme Floskeln

27. Juni

Das Projekt "Editha Geschichten" berichtet auf verschiedene Weise von Gott, ohne ihn zu benennen. Erzählt vom christlichen Glauben und von einem spirituellen Leben, ohne die allseits bekannten Wörter zu verwenden. Sie sprechen vom Alltag, von so manchem Grauen und Dunklen und von Freiheit, von Abenteuern, von dem Bruch mit Konventionen und Traditionen. So werden Leute erreicht, die mit Glauben und Gott nichts anfangen können oder dem negativ gegenüberstehen.

Als ich Silke zum ersten Mal virtuell begegne, sehe ich durch ihre Kamera auch den großen Raum der Gaststätte in Weissach im Tal, die ihr Mann Jörg gekauft hat. Holzvertäfelungen, leichte, fliederfarbene Vorhänge, schwarzblauer Tanzboden, ein riesiges Plakat mit Palmen, Sand und Meer. „Diesen Raum nutze ich zum Tanzen“, erklärt Silke auch gleich zu Beginn. Aktuell vor allem alleine, aber eine neue Tanzgruppe soll jetzt nach Corona aufgebaut werden. Sie selbst hat als Kind ebenfalls in einer Tanzgruppe getanzt. Geleitet wurde diese von Silkes Großmutter, Editha Humburg.

Wobei, eigentlich wurde die 100-Jährige auf den Namen Edith geboren. Schließlich, so ihre eigene Großmutter zu ihren Eltern, klinge der Name Editha viel zu sehr nach einem Leben mit Tanz und Theater – Dinge, die sich für eine junge Pfarrerstochter mit adligen Vorfahren nicht ziemen. Doch die Leidenschaft fürs Tanzen, für anmutige Bewegungen, für Theater, Spiel und Schönes blieb Edith erhalten und so lässt sie sich seit rund über dreißig Jahren Editha rufen.

Geschichten ohne fromme Floskeln

Der „liederliche“ Vorname wurde 2005 dann – vielleicht zum Trotz – der Name ihrer GbR „Editha Geschichten“, als Enkeltochter Silke Editha ermutigte, doch nicht immer darauf zu warten, dass sie ihre Geschichten und Theaterstücke in der einen Gemeinde aufführen könne, sondern sich unabhängig zu machen. Seitdem sorgt die rüstige alte Dame für den Stoff, die Geschichten und Silke kümmert sich um Kostüme, Kulissen, Öffentlichkeitsarbeit, Schauspieler:innen und Proben. Alles mit dem Ziel und unter dem Motto: „Holt Gott zurück in den Alltag – wir machen gute Erfahrungen damit!“ Besonders wichtig ist es dem Frauen-Gespann, dass die Geschichten ohne frommes Vokabular und ohne moralischen Zeigefinger auskommen, aber dennoch die tiefe Sehnsucht vieler Menschen nach Heilung, Annahme und Sinn berühren. So geht es in der wohl bekanntesten Geschichte „Murmelein Eckig“ um den kleinen Felix, der von sich denkt, dass er nichts kann und nichts wert ist. Der glaubt, immer übersehen zu werden und nichts zu verdienen. Keine Liebe, keine Erfolge, keine Freude, keine Heilung. Im Tränensee will er sich ertränken. Aus dem Kind wird ein Erwachsener, während die Wellen des Sees ihn festhalten und sanft hin- und herwiegen. Er beginnt zu träumen, zu hoffen und zu wachsen, bis er sich stark genug fühlt, den See zu verlassen. Fortan trägt Felix einen unsichtbaren Schutzmantel, doch noch immer plagen ihn große Sorgen und Zweifel, sodass er sich außerstande sieht, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen und das Leben in Fülle zu leben. Mit guten und schlechten Tagen.

All die Geschichten, Hörspiele, Erzählungen und Theaterstücke tragen märchenhafte Züge und spielen mit dem Motiv der Abenteuerlust, des Aufbruchs, der Sehnsucht nach ‚Mehr‘ vom Leben. Handeln davon, dass der Alltag trist, flach oder überfordernd ist. Dass man sein eigenes Leben leben muss und nicht das, was von einem erwartet wird. Dass es jemanden, oder etwas gibt, das Kraft schenkt, das liebt, das trägt. Editha Humburg nennt es „Abba Adonai“. Gott.

Gegen Konventionen und Erwartungen

Diese rebellische Seite kennt die Gründerin von Editha-Geschichten auch aus ihrem Leben. Mit 20 heiratet sie 1943 auf den Wunsch ihrer Eltern Werner Humburg, ebenfalls Pfarrerssohn, der bei der Oberpostdirektion in Stuttgart arbeitet. Edith, wie sie da noch heißt, führt das Leben, das sie eigentlich gar nicht führen wollte, das der frommen Hausfrau und Mutter. Sie beginnt – um aus dieser Situation wenigstens gedanklich zu entfliehen – erste Geschichten zu schreiben, die sie zum Teil, zusammen mit ihrem Mann, als Puppenspiel für Kinder aufführt. Ihr tänzerisches Talent lebt sie als Eistänzerin und Eistanztrainerin aus. 1987 stirbt ihr Mann überraschend. Und Edith wird langsam zur Editha. Sie lebt eine Zeitlang bei einem ihrer Söhne in Amerika, schreibt, tanzt, malt, liest, schauspielert und begeistert und berührt damit viele, viele Menschen. „Wir bekamen vor einigen Jahren einen Brief eines Mannes, der schrieb, dass er mit dem ‚Murmelein Eckig‘ als Geschichte aufgewachsen sei“, berichtet Silke in unserem Gespräch. „Als Erwachsener sei er dann in die Drogenszene abgerutscht. Als er eines Tages seine alte Kinderhörspielkassette mit der Geschichte fand und sie erneut anhörte, fand er die Kraft, sich von der Drogensucht zu lösen.“ Und das sei nur eine von vielen bewegenden Geschichten, die an sie herangetragen wurden. Es dreht sich eben viel um Geschichten, um Erleben, um das Leben im Hause Humburg und Kriese, wie Silke mit Nachnamen heißt. Gott im Alltag erleben. Das wollen sie durch ihr vielfältiges künstlerisches Engagement nicht nur anderen vermitteln, das leben und erleben sie selbst. „Wir beten immer wieder um Schauspieler, ja um das Nötigste“, erzählt Silke. Und auch ihr Mann Jörg, der den alten Gasthof gekauft hat, unterstreicht: „Wir wollen nicht nur im Gottesdienst Glauben leben. Unser Alltag, unser ganzes Leben soll davon durchdrungen sein. Wir wollen die Gemeinschaft mit Gott und mit anderen Menschen fördern.“ Deshalb haben sie auch fünf Jahre lang gebetet, um das ‚perfekte‘ Haus, den ehemaligen Gasthof, zu finden. Noch nutzen sie ihn hauptsächlich allein, abgesehen von einigen Pilgergästen und Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind. Häufig klingle zudem jemand und bitte um Hilfe, den sie dann nicht abweisen. Praktische Nächstenliebe ist für das Paar selbstverständlich. Und so soll der Gasthof auch nicht nur für sie alleine bleiben. Ein Ort der Gemeinschaft soll entstehen. Ein Ort, an dem Glaube spürbar wird, ohne dass man ihn explizit benennen muss. Ein Ort der künstlerischen Freiheit.

Wege der Freiheit

Denn Freiheit ist für Silke und ihre Großmutter Editha wichtig. Editha befreite sich von den Konventionen und Erwartungen, die an sie herangetragen wurden und heute noch werden. So machte sie sich kurz vor ihrem 80. Geburtstag auf und pilgerte den Jakobsweg von St. Jean Pied de Port nach Santiago de Compostela – auch wenn sie jeder für verrückt hielt und ihr die Idee ausreden wollte. Pünktlich zu ihrer Geburtstagsfeier kehrte sie zurück. Wohlbehalten. Aber mit vielen Abenteuern, Geschichten und Erlebnissen im Gepäck. Gerade hat sie ihren 100. Geburtstag gefeiert. Auch mit Tanz und anders, als man das vermutlich von einer Hundertjährigen erwarten würde. Geschichten und Alltag, Erlebtes und Geteiltes spielten dabei eine große Rolle. Und sie nahm sich die Freiheit, sich zurückzuziehen, die anderen, die Jüngeren, tanzen zu lassen, während sie einzelne Audienzen gab.

Silke sucht ebenfalls Wege der Freiheit. „Ich wollte eigentlich gar nicht in den kreativen Bereich, da ich in meiner Familie erlebt habe, dass Kunst nicht entsprechend der Arbeit bezahlt wird“, erzählt sie im Gespräch. Und so machte sie nach dem Abitur – wie ihre Großmutter – eine Ausbildung zur Gärtnerin. Anschließend studierte sie Agrarwissenschaften, um sich im Umweltschutz zu engagieren. Doch ihre Großmutter und deren Geschichten, deren Leidenschaft fürs Kreative und die Kunst, deren Wille nach Freiheit, ließen Silke nicht los. So begann sie ihre Großmutter bei deren Aufgaben zu unterstützen und gründete mit ihr gemeinsam „Editha Geschichten“. In aller Freiheit und mit allen Freiheiten. Die beiden sind mit ihrem Projekt auch bewusst kein Mitglied eines Theaterverbandes oder einer Kirche. Auch haben sie sich bisher nicht um eine Förderung durch ein kirchliches Innovationsprogramm bemüht, obwohl die GbR nahezu kein Geld abwirft und Silke den Fulltime-Job ehrenamtlich ausübt. Sie wollen sich keinen Erwartungen unterwerfen, möchten ihre Freiheit in der Gestaltung nicht hergeben, nicht für irgendetwas oder jemanden stehen, der nicht sie selbst sind. Ergeben und verpflichtet wollen sie nur Gott sein. Und den Menschen, für die sie spielen, tanzen, sprechen.

Im Fresh X-Netzwerk haben sie diese Freiheit gefunden. „Als ich den Fresh X-Guide zum ersten Mal gelesen habe, habe ich entdeckt, dass es so viele Überschneidungen zu uns gibt. Lange dachte ich, dass wir Exoten sind, dass es niemanden gibt, der denkt, handelt oder fühlt wie wir. In der Journey habe ich gelesen, dass wir damit nicht alleine sind. Es gibt noch andere, die sich raus in die Wildnis, ins Neuland wagen und in Freiheit Dinge ausprobieren, scheitern, neu anfangen. Die um alles, was sie brauchen, beten und hören, was Gott ihnen zu sagen hat.“ Und so waren Silke und Editha mit Editha Geschichten die Ersten, die die neue persönliche Mitgliedschaft in Anspruch genommen haben. Sie wollen so mit den Gleichgesinnten, mit den anderen Exoten und Neulandentdeckern in Kontakt kommen, sich austauschen, voneinander lernen und voneinander profitieren. Damit Gott in den Alltag kommt. Ganz ohne fromme Worte.


Dies ist der Auftakt unserer neuen Serie, in der wir nach und nach die Initiativen vorstellen, die persönliches Mitglied im Fresh X-Netzwerk sind. Organisationen, die ordentliches Mitglied im Netzwerk sind, haben wir ja bereits angefangen, vorzustellen, Führen das natürlich auch weiter.

Autorin, Lektorin, Redakteurin von Beruf. Im Fresh X-Netzwerk und an der CVJM-Hochschule. Mitarbeitende, Mitdenkende, Mitgestaltende in Kirche. Suchende, Sehnende, Scheiternde, Fragende, Findende, Fordernde im Privaten.