Angeregte Gespräche, Begeisterung, praktisches Ausprobieren und Impulse, die den Horizont weit gemacht haben – so habe ich „Kanzel im Kontext“ am 23. November erlebt. Prof. Dr. Tobias Faix, Dr. Sebastian Rink und Dr. Jochen Wagner hatten unter dem Dach der CVJM Hochschule und mit freundlicher Unterstützung des Neukirchener Verlags in die Räumlichkeiten der Reformierten Gemeinde in Frankfurt eingeladen und schnell wurde deutlich: Das Thema „Kanzel am Kontext“ und das hochkarätig besetzte Team aus Referent*innen trafen einen Nerv und auf ein gigantisches Echo: Binnen kürzester Zeit war die Tagung ausverkauft. Die knapp 100 Teilnehmer*innen aus ganz Deutschland machten sich auf den Weg, das Predigen aus verschiedenen Blickwinkeln (neu) zu entdecken.
Predigen im Kontext Gottesdienst
Drei Kontexte, Gesellschaft, Transformation und Gottesdienst, wurden jeweils durch eine Keynote und drei optionale Workshops beleuchtet. So führte Prof. Dr. Thorsten Dietz in den ersten Kontext „Gesellschaft“ ein und setze gleich zu Beginn den Ton: Über das Predigen nachzudenken, braucht Ehrlichkeit und Klarheit, aber vor allem macht es Freude, mehr denn je, der Ruach, der Heiligen Geistkraft Raum zu geben. Die Predigt sei immer auch eine Zeitansage, ohne moralisierend zu sein. „Predigen bedeutet, sichtbar machen, was da ist“, so Thorsten Dietz.
Vertieft wurde der Kontext „Predigt und Gesellschaft“ wahlweise mit Mira Ungewitter (Feministisch predigen), Dr. Sebastian Rink (Predigt als theologisches Experiment), Dr. Holger Pyka (Predigt in der Krise) oder Dr. Oliver Pilnei (Politische Predigt).
Die Predigt im Kontext Transformation
In den Kontext „Transformation“ nahm Prof. Dr. Sabrina Müller die Teilnehmenden hinein und regte dazu an, über machtsensibles Predigen nachzudenken. Vom „klassischen Kanzelbewusstsein“ der Kanzel als Ort der Macht, über Kim-Craggs Verständnis vom Predigen als „circular multidimensial movement with the purpose of creating a ripple effect in people’s hearts and minds fort he sake of the kingdom“ warb auch Müller für das Predigen als „Ruach-Geschehen“. Wie man der Ruach, der Heiligen Geistkraft als „Raum schaffendes und bewegendes Nicht-Konzept“, im Predigt-Geschehen Raum geben kann, veranschaulichte Prof. Dr. Müller in fünf konkreten Anregungen.
Mit Birgit Mattausch konnte im Anschluss das Thema „Predigt und Sprache“ exploriert werden, mit Prof. Dr. Angela Rinn die „Kurzpredigt“, mit Dr. Katharina Scholl das Gebiet „Predigt und Kunst“ und mit Marco Michalzik „Predigt und/als Poetry Slam“.
Kanzelgeschehen im Kontext Gottesdienst
Am Spätnachmittag war der Kontext „Gottesdienst“ im Fokus. Dr. Christina Wenona Hoffmann knüpfte an „der bibelauslegenden Predigt als Wahrzeichen der protestantischen Predigt“ (Greifenstein) an und machte sich für die „herausführende Predigt“ stark. Dafür beschrieb sie vier Prämissen für das Verständnis biblischer Texte: Biblische Texte als „Zeugnis vergangener Zeiten“, als „plurale Erzählfäden, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden“, als „Momentaufnahmen theologischer Entscheidungen „und als „offen und unabgeschlossen“.
Dr. Jochen Wagner gab im Anschluss in seinem Workshop der „Verkörperung der Predigt“ Raum, Prof. Dr. Tobias Faix thematisierte die Frage nach der Wirkung der Predigt (Zwischen Wort und Wirkung: Die Predigt als Teil transformativer Gottesdienste), Radu Constantin Miron stellte „Ökumenische Zugänge“ in den Mittelpunkt und Lars-Robin Schulz behandelte „Predigt und Digitalisierung“.
Neben den vielen Möglichkeiten mit Referent*innen in die unterschiedlichen Kontexte einzutauchen, gab das Tagungsprogramm auch viel Möglichkeit, alte Bekannte wiederzutreffen, neue Kontakte zu knüpfen und die eigenen Resonanzen zum Gesagten und Erlebten einzubringen.
Reflexion von Kanzel und Kontext
Mich bewegen nach diesem erfüllenden Tag diese sechs Punkte:
- Predigen stößt auf Interesse und die Auseinandersetzung weckt Begeisterung und Lust. Angesichts der Situation von Kirche und den sinkenden Besucher*innenzahlen von Gottesdiensten hätte dies auch ein Tag voller Frustration, gegenseitigen Mitleidsbekundungen und einem Abgesang auf das Predigen sein können. Und kritische Auseinandersetzung hatte auch ihren Raum. Doch der Grundtenor, den ich zumindest wahrgenommen habe, war: Wir haben Lust, das Reden über Gott zu bewegen und uns von veränderten Kontexten bewegen zu lassen. Dabei schien mir das Treffen keine Zusammenkunft von Menschen, die entgegen aller Vernunft an einem überkommenden Format festhalten wollen, sondern die in ganz unterschiedlichen Settings erleben: Predigen erzeugt Resonanz und wir sind gespannt, wie wir als Predigende Teil dieses Resonanzgeschehens sein können.
- Gottes Reden ist nicht nur das Reden über Gott von Kanzeln. Falls wir jemals der Illusion erlagen, die vermeintliche Deutungshoheit der Kirche(n) über das Wort Gottes sei exklusiv oder die Deutung von kirchlich beauftragten Personen besonders wahr, dreht sich das Gespräch nun um Resonanz, Vielstimmigkeit, Augenhöhe und Unabgeschlossenheit. Der kritische Umgang mit Macht, die „Enteignung der Kirche“ (Thorsten Dietz) und die Frage danach, wie Inhalte sich im Erleben der Hörer*innen als wahr erweisen, sind allerspätestens seit der Möglichkeit, eigene Inhalte auf digitalen Plattformen zu kommunizieren, nicht mehr zu ignorieren. Das Wirken der Ruach, der Heiligen Geistkraft scheint vielleicht auch dadurch eine besondere Bedeutung zu erlangen. Gottes Reden ist nicht auf das Reden über Gott von Kanzeln und in formalen Settings beschränkt. Was bedeutet es für die Predigt, wenn Diskurse zu Machtsensibilität und Polyphonie die Haltung von Predigenden und Form und Inhalt von Predigten prägen? In vielen Gesprächen zog sich diese Frage für mich durch und sie wird mich weiter bewegen.
- Ausprobieren und Experimentieren helfen. So habe ich es in den von mir besuchten Workshops erlebt. Da wurde nicht nur über Beteiligung gesprochen, sondern die Workshops wurden zu Erfahrungsräumen und waren geprägt von einer Atmosphäre, in der Bruchstückhaftes und Unfertiges geteilt werden konnte. Dafür brauchte es gar nicht viel: Das Erzählen darüber, was eine begeistert. Eine Geschichte anhand von vier Schritten aufbauen. Sieben Minuten schreiben und dabei sieben Wörter einbeziehen. Fünf Minuten einem Wort, das einen gerade anspricht, schreibend nachgehen. Erstaunlich, welche homiletischen Erkenntnisse in der Reflexion dieser vermeintlich simplen Übungen stecken kann und welche Kraft eine Gruppe hat, die es erlaubt, nicht perfekt sein zu müssen.
- Es gibt noch so viel mehr zum Predigen zu entdecken. Ich fahre mit einer langen Liste an Literatur- und Podcastempfehlungen, Hinweisen auf Good Practice und sogar technische Tools nach Hause und stelle demütig fest: Mein Horizont kann sich noch deutlich weiten. So viele spannende Menschen haben in den letzten Jahren zum Thema „Predigen“ gearbeitet und ich entdecke Anregungen, die mir Lust machen, ihnen nachzugehen.
- Diversität bereichert. Im „Dazwischen“ war viel Raum für Gespräch und es wurde deutlich: Wir kommen aus unterschiedlichen konfessionellen Backgrounds, haben verschiedene Professionen, manche werden fürs Predigen bezahlt, andere tun es ehrenamtlich, wir haben verschiedenste Ausbildungen genossen. Und in jedem Gespräch gab es etwas zu entdecken, wurden Perspektiven eröffnet und Fragen angeregt. Verbündete finden sich nicht nur im „eigenen Laden“ und es beflügelt zu erleben, dass uns viel verbindet.
- The medium is the message. Neben allen Inhalten und thematischen Gesprächen hat mich das Tagungsdesign fasziniert. Die Art, wie sich Themen wie „Polyphonie“, „(M)achtsensibilität“, „zur Sprache bringen, was da ist“, Diversität, Ausprobieren und Erkunden, „Offenheit und Unabgeschlossenheit“ im Ablauf des Tages widergespiegelt haben, hat meines Erachtens die Inhalte nicht nur unterstützt, sondern ganz eigenen Erkenntnissen Raum gegeben. Es war nicht leicht, sich zwischen all den vielen und vielversprechenden Workshops zu entscheiden. Doch die Veranstalter*innen haben nicht nur für Abwechslung und Qualität gesorgt, sondern auch für Luft zum Durchatmen und Raum für Begegnungen gelassen. Raum für die Ruach, die Heilige Geistkraft. Und so gehe ich aus diesem Tag sehr beseelt.