inspiriert

Lotsen durch den Sturm der Institution

12. Februar

Coaching im Fresh X-Kontext

Jan-Micha Andersen hat 10 Jahre lang eine Neugründung in Halle (Saale) geleitet und begleitet nun als Teil der Erprobungsräume in der EKM und als systemischer Organisationscoach kirchliche Initiativen, Aufbrüche oder gesellschaftlich-aktive Vereine. Wir haben ihn gefragt, warum Coaching wichtig ist und welche Themen man als Kirchen-Pionier:in im Blick haben sollte.

Warum ist Coaching für kirchliche Start-ups, Initiativen und Pionier:innen so wichtig?

Jan-Micha Andersen: Gerade dort, wo Menschen sich aufmachen in neue Gefilde, in denen sie sich nicht auskennen, ist es wichtig, nicht alleine unterwegs zu sein, sondern jemand zu haben, der mal von außen draufschaut, die richtigen Fragen stellt oder einfach ermutigt. Dabei geht es teilweise um fachlich Unterstützung, aber noch öfter um eine Begleitung in den Prozessen und Strukturen. Wenn man als Pionier:in so sehr im eigenen Thema und in Aktion ist, dass man die größeren Prozesse oder die Menschen drumherum aus dem Blick verliert, kann es sehr hilfreich sein jemand zu haben, der von weiter weg drauf schaut und Resonanz gibt oder beim Sortieren unterstützt und ein hilfreiches Tool zur Hand hat. Manchmal brauchen die Pionier:innen auch einfach nur, dass sie mit ihrer Idee, ihrem Einsatz gesehen werden, wie sie Neues wagen, was ja nicht jede:r in ihrem Umfeld versteht. Da macht eine gelegentliche Ermutigung in Form von Nachfragen, Hinschauen und das Gute benennen einen großen Unterschied.

Jan-Micha Andersen; fotografiert von Joerg Lipskoch lipskoch.com

Jetzt ist es Kirche ja nicht erst seit gestern ein Anliegen, neue Aufbrüche zu fördern. Aber bisher gibt es wenig Begleitung und Unterstützung seitens der verfassten Kirche, die über eine finanzielle Förderung hinausgeht. Warum nicht?

Ich glaube, weil es lange einfach kein Thema war. Neue Aufbrüche sind nun nicht mehr nur auf die Motivation und Vision einzelner zurückzuführen, sondern werden institutionell gefördert und jetzt erst überlegt man wie so eine Förderung eigentlich grundsätzlich aussehen sollte. Das fängt ja bereits in der Ausbildung an. Inzwischen gibt es die Pionier-Weiterbildung und die Transformationsstudien an der CVJM-Hochschule, die Uni Jena hat neu einen eigenen Studiengang zu Pioneer Ministry und auch andere bieten kleinere Weiterbildungsformate in dem Bereich an. Da es aber nicht für alle die Lösung ist, beim Aufkommen der ersten Idee, erstmal ein Studium zu absolvieren, um die auch umzusetzen, braucht es noch andere Unterstützungs- und Begleitungsangebote. Die ersten Evaluierungen der Erprobungsräume in der EKM haben ergeben, dass die Initiativen und Pioniere genau das suchen. Und Kirche muss sich jetzt fragen: Wie gehen wir mit den Wünschen und Erwartungen der Erprobungsräume, Pioniere, Initiativen um? Ein anderer Punkt, an dem das deutlich wird: Nach und nach gehen nun die Förderzeiträume zu Ende und viele Neugründungen müssen sich nun fragen: Wo sind wir gelandet? Wie können wir weitermachen? Wer begleitet die Übergänge? Kirche hat es gut gemacht, Räume zu eröffnen und auch zu ermutigen. Aber die Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Wie schaffen wir nicht nur Räume, auch Finanzräume, sondern wie schaffen wir eine Kultur, die ermutigt und Neues nachhaltig ermöglicht?

Inwiefern unterscheidet sich die Begleitung von kirchlichen Aufbrüchen im Vergleich zum Coaching von gestandenen Teams und Organisationen?

Bei kleinen Organisationen oder Vereinen ist zum einen der Druck schon viel größer und direkter. Die merken gleich, wenn ich das jetzt nicht mache, dann endet das Projekt. Das merken die großen Institutionen nicht immer so direkt. Der Druck wächst da zwar auch, aber nicht so schnell und so groß. Zum anderen kann im Kleinen viel agiler gearbeitet werden, da sind die Traditionen noch nicht so lang, die Wege meist kürzer, es gibt es eher eine Chance, darauf zu reagieren und mit einem Team daran zu arbeiten. Und die Auswirkungen getroffener Entscheidungen sind direkter spürbar. Im besten Fall sitzen auch die Leute, die die Entscheidungen treffen und umsetzen mit am Tisch. In großen Institutionen merkt man auch, dass sich etwas verändern muss, aber es ist viel schwieriger, da hineinzuwirken. Es ist ein großes System mit anderen, größeren, längeren Prozessen. Und eine Kultur zu verändern, dauert einfach auch sehr viel länger; dafür braucht es auch auf anderen Ebenen die Einsicht in die Notwendigkeit und jemanden, der die Autorität hat, solche langwierigen Prozesse anzustoßen und mitzugestalten. Man sollte in den großen Organisationen nicht nur die Struktur im Blick haben, sondern auch die Kultur, sonst setzt man einfach nur neue Projekte auf, aber es verändert sich nichts an der Haltung, die es braucht, um Ermöglichungsräume zu öffnen.

Wenn wir über Kultur und Haltung reden, ist es dann wirklich hilfreich, die kleinen, frischen, agilen Initiativen zu coachen oder müsste man nicht eher bei der großen Institution bzw. bei einzelnen Abteilungen innerhalb des Systems anfangen?

Es braucht beides. Es ist immer ratsam, da anzufangen, wo eine Offenheit vorhanden ist. Man macht sich als Coach ja kaputt, wenn man in ein festes System reinkommt, wo einem tausend Widerstände entgegenkommen. Da hat es natürlich auch wenig Wirkung. Aber auch Erprobungsräume, Missionsorganisationen, Freikirchen – wo auch immer – wenn die an kleinen Stellen anfangen, sich begleiten zu lassen und hinzuschauen, wo ein Bedarf besteht, dann kriegt das große System ja auch mit, dass da Wandel entsteht. Im besten Fall werden sie dadurch auch offener oder neugierig. Und so kann es sich vom Kleinen zum Großen verändern.

Was könnten Themen sein, die in einem Coaching zur Sprache kommen?

Eines der Themen: Die Förderung geht zu Ende; wie können wir uns gut auch ohne aufstellen? Wie können wir nachhaltig agieren, auch ohne finanzielle Unterstützung und Förderung?

Das andere wären Konfliktthemen im Team. Man ist gemeinsam gestartet, alles war gut, es kamen neue Leute hinzu, der Stress nahm zu usw. Dann tauchen Differenzen auf und die Frage: Wie gehen wir als Freunde, als Team, nun damit um? Das ist allerdings bei unseren Anfragen selten das Vordergründige, sondern kommt dann eher hinter den Strukturfragen zu Tage. Auch hier merken wir, dass Struktur und Kultur zusammenhängen. Wann und wie und wo reden wir denn über Unterschiedlichkeiten? Wie leben wir eigentlich Teamkultur? Wer darf warum welche Entscheidungen treffen? Und dann ist man schnell bei Teamentwicklungsprozessen, die von Machtverteilung und Entscheidungsprozessen bis hin zu Kommunikation reichen.

Ein drittes Thema ist dann die Strategie. Da merkt das Team dann, dass das Projekt an manchen Stellen an Schärfe verliert, es an den Rändern etwas ausfranst und man die Vision nicht mehr ganz klar vor Augen hat. Weil man sich im täglichen Tun verzettelt und gerne Anfragen annimmt, die aber vielleicht nicht unbedingt zum Profil gehören. Das macht sich dann durch Belastungen, miese Work-Life-Balance und Überstunden bemerkbar, Leute fallen aus, schmeißen das Handtuch und die Stimmung verändert sich. Da hilft es, sich die Vision noch einmal zu vergegenwärtigen, noch mal neu klar zu kriegen und zu überlegen, ob man auch wirklich an den „richtigen“ Dingen arbeitet.

Und genau das begleitest du mit anderen in dem Verein lass lotsen. Was ist lass lotsen e.v.?

Da muss ich ein bisschen ausholen: Ich habe vor einigen Jahren im Lichthaus in Halle (Saale) gearbeitet, eine ganz klassische Fresh X, Initiative oder ein Erprobungsraum – lange bevor es das unter den Begrifflichkeiten gab. Damals haben sich eine Freikirche und eine Missionsgesellschaft zusammengetan und sind mutig losgegangen. Nach ein paar Jahren wurde deutlich, dass neben der Fragen, wie Glaube und Mission in Ostdeutschland aussehen kann, auch fragen über Café-& Kulturbetrieb, Wirtschaftlichkeit und Teamentwicklung aufkamen, was eben nicht die klassischen Themen der Träger waren. Sie haben uns super ermutigt und uns auch die Räume eröffnet, aber fachlich standen wir allein da. Deshalb haben wir nach anderen Netzwerken geguckt, wo wir uns austauschen oder Hilfe holen konnten. Und das war super hilfreich und hat uns gut getan. In den letzten Jahren gab es dann immer wieder Anfragen an uns, wo wir als Lichthaus gefragt wurden, wie wir dieses oder jenes denn gemacht und umgesetzt haben. Dann gab es beim Lichthaus einen Trägerwechsel und ich habe gemerkt: Es ist nicht nur gut, zu begleiten, wie man solche Projekte startet und über die Zeit bringt, sondern wie gestaltet man auch Übergänge oder bringt Projekte gut zu Ende?

Nach einer Weiterbildung in systemischer Organisationsentwicklung habe ich mit meinem Vater und meinem Bruder lass lotsen gegründet. Als Verein mit inzwischen zehn Mitgliedern, von denen die meisten ebenfalls Erfahrung im Coaching haben und Begleitung in verschiedenen Formen anbieten. Wir begleiten wir mit aller Leidenschaft und Erfahrung kleinere Projekte, die in die Gesellschaft hineinwirken, die etwas verändern wollen, aber auch größere Kirchen oder Organisationen. Damit die frische Initiativen auch ihr Pontential entfalten können. Mein Frust ist es, wenn gute Ideen, die eine Reich-Gottes-Perspektive und eine gesellschaftliche Wirkung haben, an organisationalen Herausforderungen scheitern, weil der Fokus oder die Klarheit fehlt, es im Team hakt oder einfach die Ermutigung fehlt.

Lass lotsen ist die Einladung für Pioniere oder für Leute in Verantwortung mit Teams oder in Projekten, sich ein Stück weit begleiten zu lassen. Deshalb das Lotsenbild: Wenn es durch Unwägbarkeiten geht, durch Meeresengen oder Stürme, da mit an Bord zu kommen und sie ein bisschen zu begleiten, damit sie sicher in den Hafen oder aufs freie Meer fahren können. Das ist unser Wunsch – und wir sehen, dass es auch immer mehr Bedarf gibt nicht nur bei kleinen Projekten, sondern auch bei etablierten Organisationen und Kirchen.

Autorin, Lektorin, Redakteurin von Beruf. Im Fresh X-Netzwerk und an der CVJM-Hochschule. Mitarbeitende, Mitdenkende, Mitgestaltende in Kirche. Suchende, Sehnende, Scheiternde, Fragende, Findende, Fordernde im Privaten.