Rolf: Sandra und Maria, ihr arbeitet schon lange ökumenisch zusammen. Würdet ihr sagen, eine zukunftsfähige Kirche geht nur ökumenisch?
Maria: Ich hab mal die These aufgestellt, dass man eine missionarische Haltung daran messen kann, wie ökumenisch sie ist und umgekehrt. Für mich hat Ökumene immer was mit Mission zu tun und Mission immer was mit Ökumene. Das kommt auch von der These der Missio Dei, also der Idee, Gott überall finden zu können, ihm oder ihr überall begegnen zu können oder von ihm oder ihr überall gefunden werden zu können. Das Spannende ist, wenn man das so vertritt, passiert das nicht nur im Fußballverein vor Ort, sondern auch in der anderen Konfession, die man vielleicht gar nicht so mag. Die Bewegung fresh expressions of church haben aus ihrer anglikanischen Welt heraus so einen Erfolg, weil sie an sich binnen-ökumenisch aufgestellt sind, das heißt, die Anglikaner haben eine sehr katholische Seite, eine sehr reformierte, eine sehr rationale und auch eine sehr evangelikale bzw. charismatische Seite. Das spürt man der Bewegung ab. Deswegen vertrete ich den Standpunkt, dass zukünftige Formen von Kirche, die aus einem missionarischen Funke erwachsen, per se ökumenisch angelegt sind oder post-konfessionell.
Sandra: Ich würde noch einen Schritt weitergehen und sagen: Ökumene ist nur eine Facette. Bei dem, was ich von Fresh X verstanden habe, geht es grundsätzlich um Diversity. Darum, zu reflektieren, ob die Grenzen, die ich jetzt für mich wahrnehme wirklich Gottes Grenzen sind oder nur meine eigenen, kleinen, Grenzen? Und dann kann es sein, dass ich mich mit Brüdern und Schwestern bei den Baptisten, Methodisten oder römisch-katholischen Leuten auseinandersetze. Das kann aber auch sein, dass ich mich frage: „Was haben die anderen für ein Kirchenbild?“, „Was haben die anderen für eine Lebensweise?“ Eine Reflexion und eine Konzentration darauf, dass Vielfalt ein Geschenk ist und kein Problem, ist total bindend und wichtig. Dann ist so etwas vermeintlich Trennendes wie Konfession nicht mehr in dem Maße trennend. Vielfältiger zu denken, ist auch für mich eine Hausaufgabe: Wo gehe ich von vorneherein von Erwartungen aus und von Bildern, dass ich manche Leute dahinter gar nicht sehe. Dieses Übersehen ist ein Riesenproblem in der Art und Weise, wie wir Kirche gestalten. Dementsprechend ist Ökumene für mich ein Geschenk, zu merken, dass Gott schon überall Brüdern und Schwestern im Geiste in der Startposition hat, die ich bisher übersehen habe.
Katharina: Ihr beide sprecht auch immer wieder von der Ökumene der Sendung, was auch viel darüber aussagt, wie ihr Kirche versteht.
Maria: Mich inspiriert immer dieses Nachdenken über Charismenorientierung in Gemeinden und Gemeinschaften. Also Menschen sind unterschiedlich und können dadurch unterschiedliche Perspektiven zu einem großen Ganzen beitragen. Ich kann mir vorstellen, dass die Ökumene der Sendung eine Rede sein kann, die von den Charismen der Konfessionen spricht, also davon, dass Konfessionen und ihre Hintergründe, Schätze sind, die dazu beitragen, am Reich Gottes zu bauen. Es gibt, es gibt die Idee, Kultur als Ressource zu verstehen. Das würde ich gerne verstärkt in Diskurse einführen.
Sandra: Für mich ist das auch geistlich sehr prägend gewesen, immer wieder zu merken, dass es links und rechts Leute gibt, mit denen man Hand in Hand Kirche gestalten kann. Und dass ich das auch nicht alles alleine schaffen muss, prägt einen, gerade wenn man merkt, dass die anderen in ihrem Anderssein einen ganz wichtigen Baustein liefern, den ich selber gar nicht liefern kann und will. In diesem gemeinsamen Unterfangen stärkt es das Bild und Portfolio von einer sehr attraktiven und relevanten Kirche in einer wahnsinnigen Breite und Vielfalt.
Maria: Und das wird dann auch total praktisch. Also wenn, wenn du mich jetzt fragst, was der Rosenkranz für mich bedeutet, dann kann ich persönlich darauf antworten, aber ich kann auch es dir auch so erklären, wie man in einer guten Weise darüber sprechen kann und ich kann mit Worten darüber sprechen, die du nicht verstehst, weil du kein konfessionelles Gepräge dahinter hast. Und das sind Praktiken oder Übungsfelder, die man einüben muss: Wie erkläre ich was, in welchem Kontext und wem? Und den anderen Brüdern und Schwestern Fragen zu stellen, warum es bei ihnen in der Konfession so oder so ist und wie es ihnen damit geht. Dinge nicht für selbstverständlich zu erachten, das ist für mich Ökumene der Sendung. Daraus erwächst an vielen Stellen Innovation, weil Innovation ja genau die Frage nach der Essenz ist und wie man sie neu formulieren kann.
Katharina: Ihr habt zusammen schon etliche Veranstaltungen, Beratungsprozesse, Workshops und vieles mehr gemeinsam designt und durchgeführt. Wie habt ihr das gemacht? Ihr hattet ja immer Leute aus ganz unterschiedlichen theologischen geistlichen Frömmigkeitsbackgrounds mit dabei.
Sandra: Ich habe das früher an ganz vielen Stellen als einen Spagat wahrgenommen und hatte auch mit vielen Leuten Kontakt und war in Netzwerken, in denen es viele Spagat-Menschen gab. Gleichzeitig habe ich bei mir und bei anderen bemerkt, dass es wahnsinnig kräftezehrend ist, ständig in diesem Spagat zu stehen und die Muskelanspannung zu halten, damit es irgendeine Form von Halt gibt, für einen selbst, aber auch, um handlungsfähig zu sein. Eine der Facetten unserer Arbeit war, dass Maria und ich uns eingestanden haben, dass wir beide in diesem Spagat stehen. Und dann angefangen haben zu überlegen, wie es für uns sein muss, dass es entspannter ist, ohne dass man sich auf die eine oder andere Seite stellt. Wie kommt man in eine Flexibilität, in ein Tanzen, ohne das eine abzuwerten oder sich nur auf das andere zu fokussieren. Wie können wir eine größere Fluidität, eine Spielbein-Freiheit, ein Tanzen ins Kirche-sein kriegen?
Maria: Ein weiterer wichtiger Begriff unserer Zusammenarbeit, ist Komplexität. Komplexität bedeutet, dass man keinen Standpunkt mehr hat, beispielsweise in einer Gesellschaft, in einer Gruppe, oder auch in einer Kirche, von dem aus man den absoluten Überblick hat. Es gibt verschiedene Standpunkte, sogar in uns selber. Für den Job bedeutet das: Menschen in einer guten Weise, manchmal aber auch in einer sehr ehrlichen und schmerzhaften Weise mit verschiedenen Standpunkten vertraut zu machen. Menschen zueinander zu bringen, damit sie verschiedene Standpunkte und Perspektiven annehmen können und von ihnen zu hören. Das kann in einer Instagram-Nachricht sein oder eben in der E-Mail oder bei einer Veranstaltung, von der ich weiß, da sind heute zwei Menschen, die mal einen Kaffee miteinander trinken sollten. Wir haben uns auch immer überlegt, was ist die wirkmächtigste Kombination bzw. Rekombination mit einer anderen Perspektive. So haben wir bewusst Veranstaltungen außerhalb von kirchlichen Räumen gemacht, zum Beispiel in einem Coworking-Space, bei der Caritas oder Diakonie oder auch in einem Museum. Es ist mir immer wichtiger geworden, dafür Sorge zu tragen, dass Menschen unterschiedliche Standpunkte einnehmen zu können, die gut zu verarbeiten und daraus Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Das kann in der konfessionellen Ökumene sein, in der interreligiösen Ökumene oder auch mit einer dritten Form von Ökumene, mit anderen gesellschaftlichen Dynamiken beispielsweise.
Katharina: Wie geht Kirche in Diversität und ergänzenden Formen? Was wünscht oder erhofft ihr euch von den nächsten zehn Jahren und was sind vielleicht auch eure Befürchtungen oder Sorgen?
Sandra: Ich habe den Eindruck, dass wir in den letzten Jahren, seit sich auch das Fresh X Netzwerk als Verein gegründet hat, sehr viel Zeit darauf verwandt haben und auch verwenden mussten, eine deutsche Vereinsstruktur aufzubauen. Gleichzeitig glaube ich, dadurch, dass es die gibt und sie sich auch immer weiter entwickelt, merke ich, dass ich jetzt auch Lust habe, noch mal nach links und nach rechts zu gucken, was es noch alles gibt und dieses Netzwerk ein bisschen aufzubohren, über den nationalen Tellerrand zu schauen. Fresh X ist ja eine Sache, die wir aus England geschenkt bekommen haben. Das sind englische Erfahrungen und Deutschland ist nicht das einzige Land, das von England gelernt hat und beschenkt wurde. Das ist auch in anderen europäischen Ländern passiert. Auch darüber hinaus haben Leute das rezipiert und für sich kontextualisiert. Ich habe den Eindruck, dass sich jetzt langsam der Kreis schließt. Vorher haben alle von England gelernt und dezentral sind Sachen entstanden. Mittlerweile fangen jetzt diese Länder an, sich untereinander zu vernetzen, aber auch wieder mit England. Und die Engländer sind jetzt an einem Punkt, interessiert wahrzunehmen, was die anderen aus ihren Impulsen gemacht haben und zu schauen, ob sie davon wieder etwas lernen können. Ich nehme da gerade eine sehr große Dynamik wahr und finde das spannend, immer noch weiterzuentwickeln.
Maria: Ich habe noch mal andere Themen, die mich beschäftigen. Zum einen Machtmissbrauch, sexualisierte Gewalt, Gewaltfreiheit und wie eine Reflexion und Bearbeitung dieser Punkte auch neue Formen von Kirche hervorbringen oder darstellen können. Ein anderes Thema, das mich beschäftigt, ist die Diskussion nicht über Kirchenentwicklung zu führen, sondern in einer guten Weise über das zu sprechen, was Theolog:innen das Reich Gottes nennen. Es ist wichtig, Kirche sich entwickeln zu lassen. Die Frage ist nur, wie viel wichtiger ist es für Glaube, Liebe und Hoffnung in einer Gesellschaft zu stehen, die so zerrissen ist wie diese? Das beschäftigt mich sehr. Vor allem weil ich Kirche als sich selbst bestätigend erlebe.
Rolf: Ihr sagt immer wieder auch, dass da gerade schon was passiert. Ist Kirche, ist Fresh X, da auf dem richtigen Weg?
Sandra: Ich glaube nicht. Es ist aber auch gar nicht so sehr die Frage, ob Fresh X oder Kirche auf dem Weg ist oder nicht. Es geht um die vorhin benannte Komplexität: Haben wir heutzutage überhaupt noch den Anspruch, dass es irgendeine Lösung, die wir zu irgendeinem Zeitpunkt mal hatten, langfristig und allgemeingültig richtig sein kann. Kirche ist hybrid. Kirche ist ein Mix aus Bewegung und Organisation bzw. Institution. Und je mehr man sich diese Flexibilität, eine gewisse Fluidität erhält, desto stabiler wird man. In Japan werden in den Erdbeben-Gebieten zum Beispiel die Hochhäuser nicht einfach stabiler gebaut. Sondern je flexibler man die Struktur baut, umso mehr können sie auch mit den Disruptionen umgehen. Und ich nehme es so wahr, dass Fresh X für unterschiedliche Zielgruppen eine Möglichkeit war, diese Flexibilität zu trainieren. Zum Beispiel im Hinblick auf die sinkenden Kirchenmitgliedschaften. Wie gehen wir damit um? Ist das ein Problem? Ein Marker, der uns zeigt, dass es auch anders gehen könnte, der uns ins Weite lockt? Ich merke, ich möchte eher ein japanisches Hochhaus sein und nicht so sehr zu dem Gefühl, es muss alles so bleiben, in das Verkrampfte zurück. Fresh X hat auch mich da trainiert, geschmeidig in der Hüfte zu bleiben.
Dieses Interview ist ein gekürzter und bearbeiteter Auszug aus dem Fischetheke-Podcast, Folge 44 mit Sandra Bils und Maria Herrmann zum Thema „Warum macht Flexibilität stabil“