inspiriert

Auf dem Weg zu einer hörenden Kirche im Sozialraum

29. September

„Wir und hier“ – die Toolbox für eine sozialraumorientierte Kirche

Michael Waschhof ist Pfarrer in Witten-Wengern. Ein kleiner Ort am Rande des Ruhrgebiets. Klassische Parochialgemeinde. Doch die Sehnsucht nach der Strahlkraft seiner Gemeinde geht weit über die Kirchmauern hinaus. Dafür hat er sich Hilfsmittel gesucht…

Die Ausgangslage

Am südlichen Rande des Ruhrgebiets befindet sich der Ort „Wengern“, dörflich-kleinstädtisch, mit guter Anbindung nach Witten und Hagen. Mitten drin unsere Kirchgemeinde. Dabei erstreckt sich das Gemeindegebiet nach Westen bis Wuppertal, mit nur spärlicher Besiedelung, einzelnen Bauernhöfen und sehr geringer Infrastruktur. Rund 60% der Bevölkerung sind hier evangelisch, der Sonntagsgottesdienst ist überdurchschnittlich besucht und  von den noch rund 3000 Gemeindegliedern erreichen wir durch Aktivitäten, Kasualien, Gottesdienste, Feste und Öffentlichkeitsarbeit knapp die Hälfte.

Die Problematik

Die Kehrseite der Medaille: Aus dem gewachsenen Selbstverständnis erwuchs (auch das ist kein Alleinstellungsmerkmal für Kirchengemeinden) eine gewisse Selbstzufriedenheit und Exklusivität. Der Blick auf die eigene Gemeinde war milieuverengt. Dadurch ergab sich eine eingeschränkte Wahrnehmung in der Betrachtung der eigenen Probleme: Plötzlich traten Menschen aus, die man nicht kannte. Wie geht man damit um? Ehrenamtliche hörten aus vielfältigen Gründen mit ihren Tätigkeiten auf. Wie gelangt man an neue Mitstreiter:innen? Gottesdienste und Gruppenveranstaltungen wurden nicht mehr so gut besucht. Wie gewinnt man das Interesse von den „Ehemaligen“? Die Frustration innerhalb der Leitungsgremien wuchs; nicht zuletzt zusätzlich durch fortschreitende finanzielle Schwierigkeiten, die in der Landeskirche und Kreiskirche immer offensichtlicher wurden. Handlungsspielräume, die früher selbstverständlich waren, wurden deutlich eingeschränkt.

Neustart durch Fortbildung

In der Krise wurde klar: Es kann kein „weiter so“ geben. Es fügte sich gut, dass ich gemeinsam mit dem Jugendreferenten der Gemeinde eine Langzeitfortbildung zum Thema „Kirche im Sozialraum“ besuchte. Dort lernten wir unter anderem vielfältige Betrachtungen von Kirchengemeinden kennen: Ausgehend von den vorhandenen kirchlichen Gebäuden, durch die Brille eines Städtebauplaners oder der Analyse von Milieus und vielem mehr. Eine der für mich prägenden Sitzungen war die Vorstellung der mi-di- Toolbox „Wir und hier“. Diese beginnt auf ihrer Internetpräsenz mit Fragen: „Wenn ihr an euren Ort denkt: Wie könnte es hier sein? Wovon träumt ihr? Wovon träumen die Menschen um euch herum?“

Aus der defizitorientierten Verengung weitet sich die Betrachtung der Gemeinde hin zu den Träumen. Ein erster Blick gilt dem Umfeld. Im Folgenden wird es dann konkret. Es gibt zu den Themenfeldern Identität und Motivation sowie Analyse der Gemeinde und Netzwerkaufbau im Ort(steil) zahlreiche Praxistipps, wie man schnell ins Handeln kommen kann. Dazu gibt es eine Auflistung von hilfreichen Stellen bei Kommunen, Landeskirchen, diakonischen Einrichtung etc. und erste Anlaufstellen für Förderprogramme von klein (den örtlichen Möglichkeiten) bis groß (z.B. EU Programm LEADER).

Eine weitere Rubrik bieten Praxisbeispiele („Inspirationen“), in denen Menschen ihre Projekte vor Ort skizzieren und als Ansprechpartner:innen zur Verfügung stehen.

Den wichtigen inhaltlichen Abschluss bilden dann Glaubensimpulse: Wie kann ich mit Menschen über Glauben ins Gespräch kommen? Für mich ist dies ein wichtiger Akzent, denn damit grenzt sich meine Vorstellung einer Kirche im Sozialraum von einer reinen Quartiersentwicklung ab, an der wir als Gemeinde z.B. durch das zur Verfügung stellen von Räumlichkeiten teilhaben. Darüber hinaus gibt es zu jedem Punkt weiterführende Literaturangaben, Erklärvideos und Praxisbeispiele.

Die Toolbox – Lernen, zu beobachten

In den oben skizzierten Untergruppen gibt es jeweils verschiedene Tools. Ein erster Blick verrät, wie aufwändig das Tool ist und wieviel Zeit dafür eingeplant werden muss. Öffne ich das Tool, gibt es z.B. eine kurze Anleitung, eine Materialliste und weitere hilfreiche Tipps zur Durchführung.

Einen großen Raum nehmen die Tools zur Wahrnehmung der Gemeinde ein. Ich lerne, den Raum in dem ich mich täglich bewege, besser zu verstehen. Ob in Form einer Begehung, durch das Gestalten einer individuellen Landkarte oder durch die Befragung von Akteuren im Sozialraum.

Die Toolbox ist ein wachsender Steinbruch an Ideen. Ich kann themenbezogen auswählen, mich ausprobieren, Dinge anstoßen und auf den Weg machen. Für mich waren einige Dinge ganz besonders erhellend, die anhand der Beschäftigung mit einigen der Tools herauskamen:

  • Das Selbstverständnis einer Gemeinde kann im Widerspruch zur Fremdeinschätzung durch andere stehen.

Das kann einem durch Umfragen mit Anwohner:innen, oder Kontakte mit anderen Akteuren im Sozialraum (Schule, Vereine, Feuerwehr, Kommune) gespiegelt werden. Sind wir z.B. so offen, wie wir uns geben?

  • Wer und wo ist eigentlich „meine Gemeinde“?

Wen habe ich im Blick? Wen nicht? Welche Räume bespiele ich, aus welchen halte ich mich (bewusst oder unbewusst) fern? Hier halfen mir Sozialraumanalysen und subjektive Landkarten besonders. Ich denke „Gemeinde“ seitdem weiter: Über die Kerngemeinde und eingetragenen Mitglieder hinaus zu potentiellen künftigen Gemeindegliedern und verbündeten Mitstreitenden, die sich mit uns für ein gutes Leben im Dorf einsetzen.

  • Wo wollen wir hin?

Kirche ist kein Selbstzweck. Der Auftrag jeder Gemeinde wird je nach Rahmenbedingungen immer etwas anders aussehen. Es hilft, zu träumen und dann vom Ziel her zu planen: Wen und was brauche ich, um etwas zu erreichen? Wenn ich z.B. mein Erntedankfest nicht mehr allein gestemmt bekomme, wird es nicht unbedingt erfolgreicher, wenn ich mich in der Kirche einschließe und für Menschen bete, die vom Himmel fallen mögen. Aber wenn ich mich traue, (wieder) auf einem Bauernhof zu feiern, dazu die örtliche diakonische Einrichtung bitte, mit einzuladen und das Nachmittagsprogramm zu gestalten, die Feuerwehr anfrage, ob sie die Getränke verkaufen wollen und dem Förderverein des nicht-gemeindlichen Kindergartens anbiete, Waffeln anzubieten – dann könnte es ein besonderes Fest mit Strahlkraft werden.

Ein (selbst)kritisches Schlusswort

Die vielen Tools machen mir Mut. Sie überfordern nicht, sondern senden mich hinaus – auch aus der Komfortzone. Ich habe gelernt: Es braucht vor allem Haltung. Alle müssen sich neu orientieren wollen, besonders in der Gemeindeleitung und dem Hauptamtlichen-Team. Ich muss mich hinterfragen lassen. Außerdem bin ich abhängig von anderen; ein Gefühl, das Gemeinden zunächst fremd sein kann. Wenn die Kommune, die diakonischen Einrichtung oder andere nichts mit mir gestalten wollen, kann ich daran nichts ändern. Auch das Gemeindeverständnis ändert sich automatisch, wenn man sich selbst in neue Beziehungen zu seinem Umfeld setzt. Damit werden Unsicherheiten und Ängste freigesetzt, denen eine Gemeinde transparent begegnen muss. Ich vermute: Es gibt keinen Weg „zurück“. Daher träume ich gern weiter von meiner „hörenden Kirche“, die dafür sorgt, dass Gottes Wort in der Tat lebendig im Dorf bleibt. Die mi-di Toolbox wird mich dabei begleiten.