Was ist digitale Kirche? Was macht sie aus?
Dr. Fabian Vogt: Es gibt heute ganz unterschiedliche Formen von Gemeinschaft, und so gibt es natürlich auch Digital-Gemeinschaften. Da, wo sich Menschen verbunden fühlen, sich aufeinander beziehen, egal in welcher Weise, auch füreinander eintreten und das unter einer geistlichen Perspektive, da ist für mich digitale Kirche.
Und was sind Voraussetzungen dafür, dass eine digitale Kirche entstehen kann? Ist der Livestream eines Gottesdienstes auch schon digitale Kirche?
Ich würde immer sagen, das Ziel aller digitalen Angebote muss sein, dialogisch zu funktionieren. Natürlich kann auch ein Livestream, bei dem Menschen digital miteinander Abendmahl feiern und sich als Miteinander empfinden, oder möglicherweise in einer stillen Verbundenheit am anderen Endgerät füreinander beten, eine Form von Gemeinschaft sein. Mir ist allerdings diese dialogische Kommunikationsform sehr wichtig, die natürlich in allen digitalen und sozialen Medien neuen Herausforderungen gegenübersteht.
Wie kann man denn für so eine dialogische Kommunikationsform, überhaupt für Partizipation sorgen. Mitunter sieht man ja nicht zu hundert Prozent, wenn genau man da vor sich hat. Und selbst wenn man wie bei Zoom und Co. kleine Kacheln vor sich sieht, bleibt es doch ein Reden, Predigen, Beten in den lutftleeren Raum hinein, oder?
Das stimmt. Aber wir müssen ehrlich sein, in vielen analogen Formen gibt es auch keine dialogische Kommunikation. Da steht auch oft jemand vorne und redet in einen luftleeren Raum hinein, um es mal ein bisschen böse zu sagen. Insofern ist das Anliegen, Kirche dialogisch zu gestalten, etwas, das mich schon länger interessiert. Und das fängt schon da an, wo ich als Mensch reagieren kann. Das kann ich im Chat tun, das kann ich über Winken tun, das kann ich über Fragen tun. Ich habe zum Beispiel mal am Anfang eines Zooms gefragt: „Wer von euch ist im Moment wirklich glücklich“. Damals haben sich vielleicht so vierzig Prozent gemeldet, aber von da an reden wir mit und von Menschen, die schon mal Anteil gehabt haben am Geschehen. Oder man macht es noch etwas komplexer und baut ein Mentimeter ein oder geht auch bei Gottesdienstformen in Breakoutrooms. Wir müssen bereit sein, die Chancen dieser Medien zu nutzen.
Und wenn ich jetzt verschiedene Tools nutze, ist es dann möglich, eine besondere, heilige Atmosphäre herzustellen? Das passiert ja im Gottesdienst häufiger in der persönlichen Begegnung, in der Musik, in den Emotionen …
Zuerst einmal würde ich sagen, dass ich bei einem gestreamten Gottesdienst viel leichter mit Videos, Bildern und Einspielern oder kleinen Interviews arbeiten kann als in klassischen Gemeindeformaten. Inzwischen haben zwar immer mehr Gemeinden einen Beamer, manche aber eben auch nicht. Wenn uns die digitalen Angebote helfen, multimedialer zu denken, heißt das ja auch automatisch, lebensweltorientierter zu denken. Denn wenn ich drüber nachdenke, welche Clips, welche Filmsequenzen die Menschen ansprechen, denke ich viel mehr in der Welt der Menschen, als wenn ich nur sage, hier habe ich einen vorgeschlagenen Bibeltext und der wird jetzt ausgelegt. Ich glaube, dass die digitalen Medien uns helfen, den längst fälligen Perspektivenwechsel zu vollziehen, weg vom reinen Bibeltext … hin zum Leben, von dem ich dann zeige, dass die Bibel davon auch schon erzählt. Wie Jesus es übrigens auch macht.
Okay, aber in den Beispielen bisher ging es immer um Gottesdienste oder gottesdienstähnliche Formate. Kirche ist ja aber hoffentlich mehr als nur der Sonntagsmorgens-Gottesdienst.
Den Ball spiele ich auch an jede analoge Gemeinde zurück: Wenn wir eines in Corona gemerkt haben, dann, dass die Gemeinden, die Veranstaltungsgemeinden waren – und da zähle ich den Gottesdienst mit dazu – ein echtes Problem hatten, weil sie nichts mehr machen konnten. Die Gemeinden, die auf Beziehung basiert haben, haben Alternativformen gefunden. Und das halte ich auch für die größte Herausforderung aller digitalen Angebote: Egal, was wir digital machen, es kann immer nur ein Baustein in einem Prozess sein. Ein Prozess, bei dem die Beziehungsebene unabdingbar ist und zu dem auch Follow-up-Angebote gehören. Denn oft machen wir – analog wie digital – tolle Veranstaltungen, die dann aber verpuffen, weil nicht drüber nachgedacht wird, wie man die Menschen auffangen und weiter begleiten kann.
Können denn diese Follow-up-Angebote auch digital stattfinden oder wäre es ratsam, sie analog anzubieten, um auch die Beziehungsebene besser stärken zu können?
Aus meiner Perspektive würde ich sagen: Ich wünsche mir, dass all diese Angebote irgendwann im Analogen münden. Aber ich weiß von meinen eigenen Kindern, dass sie manches Digitale viel näher erleben, als ich das tue. Das hat also auch was mit einer bestimmten Kultur zu tun.
Vieles was digital stattfindet, bezieht sich auf jüngere Leute. Aber was machen wir denn mit der älteren Generation? Da sind auch ein paar auf YouTube oder Instagram unterwegs, aber bei weitem nicht die Mehrheit. Haben wir die Generation 60+ für eine digitale Form von Kirche verloren?
Das ist ne gute Frage, auf die ich allerdings nur spekulativ antworten kann. Ich bin überrascht, wie viele Senioren inzwischen ganz lässig mit ihren Smartphones umgehen können. Wir haben die ältere Generation nicht verloren, aber wir müssen gucken: Was brauchen die? Natürlich ist es schwer, digital Kaffee zu trinken; da ist die Frage, die wir uns stellen müssen, ob es eine gesunde Kirchenentwicklung war, dass wir den meisten Senioren nur Kaffeekränzchen anbieten. Auch da fordert uns das Digitale heraus, über ganz neue Formen nachzudenken.
Was wären denn Konzepte oder Formate, die inhaltlich gut digital funktionieren?
Meine Beobachtung ist, dass wir beispielsweise bei Glaubenskursen jahrzehntelang gesagt haben, wir müssen Leuten bestimmte Inhalte vermitteln. Heute besteht ein neuer Aufbruch darin zu sagen, wir müssen an die Sehnsüchte der Menschen anknüpfen. Der in Deutschland viel geteilte LUV-Kurs nennt sich „Sehnsuchtskurs“. Der redet erstmal gar nicht vom Glauben, sondern er redet von Sehnsucht und macht dann deutlich, dass unsere Sehnsüchte ganz viel auch mit dem Gott der Bibel zu tun haben. Das zweite ist, dass ich glaube, dass wir den Mut haben müssen, auch viel mehr in die säkulare Welt hineinzuschauen. Im katholischen Bereich gibt es jetzt einen Glaubenskurs zu einem Buch von Rutger Bregmann „Im Grunde gut“. Das ist überhaupt kein christliches Buch, aber es beschäftigt sich mit der Frage: Ist der Mensch eigentlich gut oder schlecht? Und die Themen, die da angesprochen werden, sind so interessant, dass es sich auf jeden Fall lohnt, sich damit auch mal aus einer geistlichen Perspektive zu beschäftigen. Und das dritte ist, dass ich tatsächlich glaube, dass wir als Kirche neu lernen müssen, viel aktueller zu sein – gerade digital. Ich merke, die Leute wollen etwas hören, dass in ihrem eigenen Leben Alltags- und Relevanzbezug hat. Das muss natürlich nicht zwangsläufig digital stattfinden, das Digitale fordert uns aber heraus, unsere Gesamtkommunikation neu zu denken.
Aber jetzt mal ganz praktisch: Wie sollte eine direktere Kommunikation laufen? Braucht jede Gemeinde einen eigenen Instagram-Kanal? Was wären die ersten Schritte für eine Gemeinde, die digitaler bzw. kommunikativer sein möchte?
Wenn uns die Studien in den letzten Jahren eins gelehrt haben, dann, dass das Hauptschlagwort, warum Menschen Kirche verlassen, „Irrelevanz“ ist: „Kirche bedeutet für mein Leben nichts.“ Wir müssen anfangen zu fragen: Was haben wir denn Relevantes zu sagen? Das heißt auch, manche Dinge infrage zu stellen, von denen wir bisher glaubten, sie seien selbstverständlich. Viele Glaubende haben zum Beispiel noch immer die Vorstellung, es würde Menschen grundsätzlich interessieren, was in der Bibel drinsteht. Die meisten fragen sich aber: Warum kommst du auf die Idee, mir einen Bibeltext auslegen zu wollen? Dass die Bibel relevant ist, ist einfach keine Selbstverständlichkeit mehr. Das bedeutet, dass wir diese Relevanz neu deutlich machen müssen. Deswegen würde ich immer dafür plädieren, an den Lebensthemen der Menschen anzudocken und zu zeigen: Es könnte sein, dass in diesem 2000 Jahre alten Buch Antworten stehen, die heute noch lebensfähig machen. Die Themen der Menschen sind nicht: Was steht in der Bibel? Sondern: Kann der Glaube mir helfen, mein Leben anders zu gestalten? Anders umzugehen mit meiner Arbeit? Mit meiner Beziehung? Mit der Kindererziehung? Hat der Glaube irgendeine Relevanz? Es wird auch deutlich, dass die Sinnfragen, also dass Leute fragen, was eigentlich der Sinn in ihrem Leben ist, das in den Hintergrund rutscht. Viele haben nicht als erstes die Frage: Warum bin ich da? Sondern sie wollen wissen: Was ist ein gutes Leben? Und dann können wir sagen: Guck mal, die Bibel ist voll mit Geschichten von Menschen, die genau wie du auf der Suche sind und die Antworten kriegen, die tragfähig sind.
Hast du eine Vision von einer (digitalen) Kirche der Zukunft?
Ich glaube, dass wir das Digitale brauchen werden, weil das Evangelium es verdient, auf allen Kommunikationswegen unter die Leute gebracht zu werden. Die digitale Kirche wird aber nicht die analoge Kirche ablösen. Denn zum Evangelium gehört nämlich immer Beziehung. Der Schwerpunkt von allen kirchlichen Angeboten – digital wie analog – sollte deshalb beziehungsstiftend sein: Zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch, aber auch zwischen Mensch und Mensch. Und da wird in den nächsten Jahren ganz viel Hirnschmalz nötig sein, zu gucken, wie digitale Kirchenarbeit sozial erfolgreich sein kann.
Vielen Dank für das Gespräch.