„Winkt doch alle mal in die Kamera! Ja, ja, genau. Schön, dass so viele hier sind. Ist vielleicht ein bisschen ungewohnt, aber toll, dass wir uns wenigstens digital treffen können.“ Was in Corona-Zeiten ein „Wenigstens“ war, ist inzwischen immer etablierter. Denn vielen war klar: Wir können – und wollen – nicht wieder in die Zeit vor Corona zurück. Die Kirchen und Gemeinden in Deutschland haben zwischen 2020 und 2023 viel experimentiert: WhatsApp-Andachten, gestreamte Gottesdienste auf YouTube, geistliche Impulse via Instagram-Live, Gebetstreffen auf Zoom, Abendmahlsfeiern bei Teams. „Kirche ist vielfältiger geworden“, waren sich auch die Initiatoren der Studie zur gottesdienstlichen Verkündigung während der Pandemie (2021). Ein Jahr nach Erscheinen der ersten Studie, „Digitale Verkündigungsformate während der Corona-Krise“, hatten mehr Kirchen neben den wieder aufgenommenen analogen Formaten auch den Digitalkonzepten Ressourcen eingeräumt. Und die kamen gut an. Besonders schätzten die Teilnehmenden die Freundlichkeit, die sie im digitalen Raum zu spüren bekamen. Mangelware in der realen Welt von 2021.
Zurück zum Analogen?
Doch was ist heute, zwei Jahre später, übrig geblieben von der Freundlichkeit – und dem Digitalen? Nicht alles, was im Krisenmodus bewährt war, ließ sich wieder in den nach-pandemischen Alltag hinüberretten. Und nicht alles war auch wirklich eine super Neuerung, sondern eben ein „Wenigstens“. Eine Not- oder Zwischenlösung. Und nicht alle Zielgruppen konnten mit digitalen Angeboten erreicht werden. Weder von den bestehenden Gruppen noch von neu zu erschließenden.
So erzählt beispielsweise Janina Crcocoll vom Kirche Kunterbunt Deutschlandteam, dass es während der Pandemie zwar viele Neugründungen von Kirche Kunterbunt gegeben hätte, weil „Stationenläufe für Familien trotzdem möglich waren und viele Kirche Kunterbunts digital oder aus einer Kombiversion von digital und Stationenlauf stattgefunden haben.“ Das sei sehr gut gewesen, um die Familien während der anstrengenden pandemischen Jahre zu begleiten, aber es war auch „wirklich nur aus der Not geboren“, wie Crocoll betont. „Der Mehrwert und die Beziehungstiefe für Familien geschieht online nicht.“ Ähnlich sehen das auch die Verantwortlichen anderer Kinder- und Familienangebote. Beziehungsaufbau und Beziehungstiefe geschehen heute immer noch hauptsächlich in der analogen Welt. Das liegt auf der Hand: Kinder sind noch deutlich weniger im Internet unterwegs. Begeistern sich auch nur bedingt für stundenlange Frontalbestrahlung. Eine Kombination aus digitalem Input mit analog-interaktiven Elementen kam in der Pandemie am besten an. Und doch finden die meisten Formate, die Kinder und ihre Bezugspersonen im Blick haben, nun wieder in Kirchengebäuden und Gemeindehäusern statt. Die Organisatoren arbeiten dagegen häufig auch inzwischen weitgehend digital. So auch das Nationalteam der Kirche Kunterbunt: „Unsere ganze Bewegung läuft ziemlich digital“, erzählt Janina Crocoll. „Autorentreffen finden immer rein digital statt, unsere sechswöchigen Strategie-Team-Treffen auch, da das Team über ganz Deutschland verteilt ist. Auch die wöchentlichen Jour fixe als Nationalteam finden mit kleinen Ausnahmen immer digital statt.“ Die Jugendreferenten ist überzeugt, dass es sie keine Bewegung mit großer deutschsprachiger Reichweite haben könnten, ohne die digitalen Möglichkeiten zu nutzen.
Die Jugend trifft sich online
Jugendliche erreicht man dagegen vorwiegend digital. Instagram, TikTok, YouTube. Eine Unterscheidung zwischen analoger und digitaler Welt, zwischen Schulhof und Chat, findet bei ihnen kaum noch statt. Übergänge sind fließend, ergänzend. Das bestätigte auch Carina Daum von Institut für missionarische Jugendarbeit der CVJM Hochschule in Kassel in unserem Interview zur digitalen Evangelisation. Daran anzuknüpfen, müssen Kirchen aber noch lernen. Es herrscht immer noch die Annahme, man könne digitale Formate, Social Media-Post „mal so eben nebenbei“ machen. On top. Zusätzlich zur „eigentlichen“ Arbeit. Als Zusatzangebot. Um die Jugendlichen von dem Digitalen ins Analoge zu bringen. Ob das immer sinnvoll ist, sei mal dahin gestellt. Reine digitale Jugendreferenten sucht man im deutschsprachigen Raum dagegen vergeblich. Ebenso wie vollzeitlich digital arbeitende Pfarrpersonen. Einige, die als Sinnfluencer auf Instagram unterwegs sind, haben im besten Fall einige Stellenprozente für die digitale Arbeit, doch Vollzeitstellen für digitale Formate sind eine Seltenheit. Bislang schafft man sich – an einigen Stellen auch durchaus erfolgreich – Abhilfe durch ehrenamtliches Engagement oder kollegiale Netzwerke. Vereint, so scheint es, kann man schneller und leichter den Ansprüchen der Digitalkonsumenten entgegentreten. Das yeet-Netzwerk ist dabei vielleicht das berühmteste Beispiel. Auch erwähnenswert: Das Bündnis ZUDIKI, Zukunft digitale Kirche. Ein Zusammenschluss etlicher Akteur:innen aus Deutschland, die sich gemeinsam an der Zukunft einer digitalen Kirche beteiligen. Aber auch auf regiolokaler Ebene funktioniert das gut:
Im Kirchenkreis Unna wird seit der Pandemie an inzwischen weit über 500 Adressat:innen eine tägliche WhatsApp-Andacht verschickt. Mehrere Pfarrpersonen, aber auch Ehrenamtliche nehmen dafür ein kurzes Selfie-Video auf, in dem sie biblische Texte auslegen. Dabei ist eine besondere Stärke die Authentizität der Redner:innen. Klar muss das Video sitzen, aber es muss keineswegs aussehen wie in einem professionellen Fernsehstudio gedreht. Gerade der Blick hinter die Kulissen oder bewusst zum Thema gewählte Hintergründe/Settings machten den Charme der Videos aus, erzählt Pfarrer Jochen Müller aus der evangelischen Kirchengemeinde Unna-Dellwig. Als man darüber nachdachte, beim Abklingen der Pandemie den Service einzustellen, gab es große Proteste – und man machte weiter. Inzwischen konsumieren auch Leute weit über den Kirchenkreis hinaus die täglichen Morgengrüße und tauschen sich darüber aus.
Gott ist mittendrin und dazwischen
Über WhatsApp verschickt auch die digitale Netzgemeinde da-zwischen Impulse, Gedanken, Fragen. Die ökumenische Online-Community wurde 2016 an den Start gebracht und hat sich seitdem beständig weiterentwickelt. Ein 15köpfiges Team der katholischen Bistümer Speyer, Würzburg, Köln, Trier, Freiburg und der Evangelischen Landeskirche in Baden verschickt regelmäßig Nachrichten über den Messanger-Dienst und verknüpft diese mit monatlichen Zoom-Gottesdiensten sowie Austauschmöglichkeiten beispielsweise über Padlet. Es ist nicht unkompliziert, die über 4000 Messanger-Abonnenten, die 4000-Insta-Follower und die 1800 Mail-Bezieher gleichermaßen abzuholen und einzubinden. Doch inzwischen hat das Team eine funktionierende Strategie gefunden, wie Tobias Aldinger von der Erzdiözese Freiburg berichtet: „Wir stellen Fragen. Fragen, die Lust machen, aktuell sind oder herausfordern. Und wir versuchen die Beiträge der Community immer kreativ und liebevoll umzusetzen. Es braucht eine kritische Masse an Menschen, die mitmachen, damit sich weitere beteiligen.“ Außerdem nehmen sie auch immer wieder Bezug auf vorangegangene Themen, Fragen oder Antworten.
Online über den Glauben sprechen
Dass es zunächst vielleicht ungewohnt ist, sich online mit anderen über Glaubensthemen auszutauschen, zu beten oder Abendmahl zu feiern, haben die meisten Menschen in der Pandemie wohl abgelegt. Denn auch nach Kontaktsperren und Lockdowns gibt es die digitalen Angebote. Nach wie vor treffen sich täglich viele Christ:innen aus ganz Deutschland (und darüber hinaus), um gemeinsam in der Bibel zu lesen, Glauben zu teilen und zu beten. Die Onlinekirche der EKM erprobt das Format bereits seit 2018. Das Format Ankerzellen hatte damit 2020 begonnen und ist inzwischen zu einer stabilen Community mit mehreren kleineren Ankerzellen (bis max. 7 Personen) geworden. Auch der Sehnsuchtskurs LUV – der sich bewusst nicht als Glaubenskurs versteht, sondern bei den Sehnsüchten, Wünschen und Fragen der Menschen anknüpft, findet häufig digital statt. Klar können sich auch einzelne Gruppen physisch zusammensetzen, aber die einzelnen Themensequenzen sind so angelegt, dass sie auch online easy umzusetzen sind. Auch Seelsorge findet vermehrt im digitalen Raum statt. Gerade entsteht das Haus der digitalen Seelsorge und Beratung als ein Angebot der Evangelisch Hannoverschen Landeskirche, gefördert von der EKD. Auf dem Portal Ankerplatz soll eine „tragfähige, digitale Infrastruktur zur datensicheren Seelsorge und Beratung im Raum der EKD“ geschaffen werden, in die sich Kirchengemeinden oder Beratungsstellen einklinken können. Durch eine Suchmaske und verschiedenen weiteren, sogenannten „dezentralen Zugängen“ auf den eigenen Webseiten soll so Kontakt zwischen den Ratsuchenden und den Seelsorge-Personen hergestellt werden. Denn nicht immer haben Menschen jemanden vor Ort, mit dem sie über ihre Themen sprechen können. Digitale Seelsorgeangebote erleichtern so den Zugang, bauen Barrieren ab und schaffen Anknüpfungspunkte für verschiedene Fragestellungen im Alltag. In Österreich arbeiten verschiedene Bistümer aktuell sogar an einer umfangreichen Plattform für digitale Seelsorgeangebote.
Auch wenn es bereits viel gibt und Neues entsteht, ganz so weit wie in Amerika sind wir dann hier im deutschsprachigen Raum noch nicht. Etliche amerikanische Kirchen haben – neben zahlreichen analogen Ablegern mit eigener Struktur, eigenen Gebäuden und eigenem Personal – noch einen „Online-Campus“. Nicht selten mit eigens dafür angestelltem Pastor, Online-Gruppen und -Kreisen, gestreamten Gottesdiensten und regelmäßigen digitalen Treffen. Auch VR-Gottesdienste, also Gottesdienste, bei denen sich die Besucher:innen zu Hause eine VR-Brille (VR steht für virtual reality) aufsetzen und so komplett digital inszenierten und stattfindenden Gottesdiensten beiwohnt, werden ausprobiert und weiterentwickelt. Doch auch da zeigt sich: nicht alles ist digital möglich. Taufen, Segnungsfeiern, Hochzeiten, Trauerfeiern – besondere Ereignisse, besondere emotionale Momente sind (bislang) immer noch am besten in der analogen Welt umsetzbar. Und feierbar.