Deutschland ist nicht das einzige Land, in dem die Kirchen um ihre Existenzgrundlage bangen. Auch in den Niederlanden werden immer mehr Kirchen geschlossen, weil die Mitglieder austreten und die Kirchenbänke leer bleiben. So wurde bereits 2013 vom römisch-katholischen Erzbischof Willem Jacobus Eijk von Utrecht prognostiziert, man steuere auf eine Zukunft ohne Kirche zu.
Seit rund zwanzig Jahren versuchen Kirchen landauf, landab, mit Memoranden, Grundsatzpapieren und Forschungsberichten Lösungen zu finden, wie man das Kirchensterben aufhalten könne, während die Bevölkerung schulterzuckend konstatiert, in den Niederlanden sei man eben atheistisch. So schreibt es zumindest Achim Härtner, Professor für Gemeindepädagogik an der Theologischen Hochschule Reutlingen in einem 2022 erschienenen Essay, „Vom Herrschen zum Dienen. Entdeckungen auf dem Weg einer Neuorientierung der Protestantischen Kirche in den Niederlanden“.
Neustart durch Pionierorte
In der Geschichte der Protestantischen Kirche in den Niederlanden (PKN) nennt er als entscheidende Wegpunkte u.a. das Memorandum von 2012 („Der Herzschlag des Lebens“), bei dem eine grundsätzliche Neuorientierung durch die Gründung von Pionierplätzen verabschiedet wurde. Das vier Jahre später erschienene Grundsatzpapier „Kirche 2025: Wo ein Wort ist, ist ein Weg“, versprach dann passend dazu einen Turnaround, der die kirchlichen Wurzeln berühren könnte. Kirche sei zu sehr in ihrer eigenen Kirchenkultur gefangen und müsse sich wieder auf ihren Auftrag, auf die Sendung – und dann erst auf die Sammlung konzentrieren. Der Fokus liegt darauf, bei der missio Dei – dem Wirken Gottes hier auf Erden – mitzumachen.
Härtner beschreibt in dem Essay, wie nach dem Memorandum die niederländische Pionierarbeit zur neuen Gestalt von Kirche für Leute, die nicht in die Kirche gehen, wurde. Inspiriert von der englischen Bewegung der fresh expressions of church habe die niederländische Pionierarbeit nicht das primäre Ziel, eine neue gottesdienstähnliche Versammlung zu gründen, schreibt Härtner, sondern den Menschen im gegebenen Kontext als Kirche dienend zu begegnen.
Inzwischen ist die Protestantische Kirche der Niederlande gar nicht mehr ohne die Pionierarbeit zu denken. Es zeigt sich immer mehr: In den Niederlanden ist die Kirche in Bewegung. An neuen Orten, in neuen Formen, mit neuen Menschen. Sie wird kleiner, dadurch aber hoffentlich auch agiler, sie geht zurück zu den Grundlagen und entwickelt sich neu als Kirche. Dabei ist die Pionierarbeit natürlich so unterschiedlich wie die Menschen, die sie gestalten.
Was ist Kirche?
Dennoch zeigen sich auch jetzt schon die mannigfaltigen Herausforderungen, vor denen die Pioniere in den Niederlanden stehen. Neue Pionierorte bedürfen der offiziellen Zustimmung und der Unterstützung der bestehenden Kirchen(leitungen). Dabei ist auch klar, dass es für sie nahezu unmöglich ist, zu „normalen“ Gemeinden zu werden – sie haben ja bewusst eine andere Leitungs- und Organisationsstruktur gewählt. Achim Härtner schreibt dazu: „Das wirft die Frage nach dem kirchlichen Status von Pionierorten auf. Werden sie als vollständige oder defizitäre Formen von Kirche betrachtet?“ Und es geht noch weiter, denn auch die Frage, was eigentlich Kirche ist, muss gestellt werden. Was braucht eine Pionierarbeit, um wirklich auch Kirche genannt werden zu dürfen, wie viel Hauptamt, wie viel Struktur und Organisation? Braucht eine Kirche unbedingt einen Gottesdienst, eine gewisse Liturgie – und jemanden, der hauptamtlich, ordiniert Sakramente spenden kann? Was ist notwendig, damit die Pionierorte nachhaltig sind?
Denn bisher ist es in den Niederlanden nicht anders als in Deutschland. Die meisten Pionierorte, mit denen Achim Härtner auf seiner Forschungsreise gesprochen hat, berichteten davon, dass sie nach wie vor nicht nur auf die Zustimmung der Kirchen angewiesen sind, sondern auch auf die Finanzierung. Genau wie in Deutschland gibt es Förderprogramme, die eine Finanzierung für drei Jahre garantieren, doch wie es danach aussieht, ist für viele Pionierorte offen. Laut der Protestantischen Kirche der Niederlande sollen die Pionierorte nach Ablauf der Förderfrist auf eigenen Beinen stehen und sich selbst tragen.
Unternehmerisch Kirche sein
Nicht zuletzt ebendarum ist es wichtig, Kirche völlig neu zu denken und Pionierorte als Orte für kirchliches Unternehmertum, als unternehmerisch Kirche sein, zu gründen und zu etablieren. Einige Beispiele aus den Niederlanden, wie dort Pionierorte wirtschaften, sich finanzieren und gleichzeitig Gemeinschaft etablieren, zeigen, wie es funktionieren kann. Genau die sind auch in der Studie „Unternehmerisch Kirche sein“ aufgeführt, die im letzten Herbst vom Fresh X Netzwerk, mi-di, dem IEEG, dem Bistum Hildesheim und der CVJM Hochschule für den deutschen Kontext übertragen wurde.
Sicherlich wird unternehmerisch Kirche sein nicht die Lösung für alle Fragestellungen und Herausforderungen sein, mit denen Kirche zu tun hat. Aber es ist für die Zukunft, in der Kirche auch relevant und für die Menschen eine (wichtige) Rolle spielen will, essenziell, nicht nur nach neuen Wegen zu suchen, wie kirchliche Formen funktionieren könnten, sondern auch danach, wie Kirche nachhaltig wirtschaften kann.