Ein Weg, auf dem man Vieles ausprobieren kann
Auf meinen Artikel über Jugendkirchen habe ich die Rückmeldung bekommen, dass Jugendkirchen schon lange nicht mehr die Zukunft der Kirche sind, nichts Neues. Man sei inzwischen an ganz anderen Fragestellungen dran. Was sind denn die aktuellen Fragestellungen in der Jugendarbeit?
Carina Daum: Hauptsächlich ist immer noch die Digitalisierung ein Thema mit vielen verschiedenen Fragestellungen. Das beginnt bei: Wo verortet sich Jugendarbeit eigentlich? Muss das eine hybride Lebenswelt sein? Wie viel Zeit investiere ich als Jugendreferent:in in digitale Jugendarbeit? Es ist eine Mammutaufgabe, einen Umgang mit der Digitalisierung zu finden – es auch pädagogisch gut zu nutzen, denn die jetzige Jugendreferent:innen-Generation, das sind alles keine digitalen Natives, im Gegensatz zu den Jugendlichen. Wie kriegen die Verantwortlichen es also hin, auf demselben Stand zu sein wie die Jugendlichen und zielgerichtete Angebote zu schaffen? Das erhöht natürlich auch die Arbeitsbelastung.
Anna-Lena Moselewski: Die Digitalisierung bringt auch theologische, nicht nur pädagogische Fragen mit sich. Wir haben in dem Forschungsprojekt “Zukunft der Jugendarbeit“ ein Unterprojekt, „Evangelisation 4.0“, wo wir uns mit der Frage beschäftigen, wie man digital missionarisch sein kann. Wie können wir Menschen, gerade über soziale Medien, mit Glaubensinhalten erreichen und begeistern? Wie kann man positiv vom Glauben sprechen? Da werden auch theologische Fragen aufgeworfen. Wenn ich mir als Jugendreferentin Content überlege, zum Beispiel eine aufeinander aufbauende Serie, die die Leute auf eine Reise zum Glauben hin mitnehmen soll, und der Algorithmus spielt die Inhalte nicht an alle aus, macht das natürlich die Serie und die Strategie dahinter kaputt. Andererseits können so Inhalte auch an andere ausgespielt werden, die wir sonst überhaupt nicht erreichen würden. Das ist ja auch eine große Chance. Ich habe im Internet ganz andere Störfaktoren und Herausforderungen als beispielsweise bei einer Jugendevangelisation im Zelt. Und viele Influencer:innen, mit denen wir gesprochen haben, haben uns gespiegelt, dass sie natürlich wissen, wie sie ihren Content gut gestalten, wie sie ihren Feed pflegen. Aber ihnen fehlt eine theologische Begleitung. Es gibt wenig Möglichkeiten bisher, dass sie ihren Content auch mal theologisch reflektieren. Genau das alles untersuchen wir – eben auch theologisch und pädagogisch – in unserem Forschungsprojekt.
Würdet ihr denn sagen, dass die Zukunft der Jugendarbeit im digitalen Bereich liegt? Oder in einer hybriden Form?
Carina: Das kann man so nicht beantworten. Ich glaube nicht, dass eine analoge Welt völlig verschwinden wird. Dafür ist Jugendarbeit auch viel zu sehr Beziehungsarbeit – und wird auch gefordert. Wir sind gesamtgesellschaftlich gerade in einer großen Umbruchzeit. Dadurch treten natürlich auch viel mehr psychische Problemlagen auf, auch im Bildungsbereich, die Jugendreferent:innen auffangen müssen – analog, vor Ort. Aber auch eine digitale Welt ist nicht mehr wegzudenken. Die Digitalität eröffnet uns auch ein anderes Medium, das unsere Art der Kommunikation verändert und auf das wir reagieren müssen, das wir nutzen sollten.
Ich erlebe es so, dass alle Menschen, mit denen man spricht mit einem Funkeln in den Augen von ihrer eigenen Prägung durch kirchliche Jugendarbeit schwärmen, das alles aber heute so größtenteils nicht mehr funktioniert. Woran liegt das?
Anna-Lena: Ich würde sagen, dass sich natürlich, durch die gesellschaftlichen Veränderungen auch die Kontexte und Lebenssituationen der Jugendlichen verändern. Das sehen wir vor allem in der Ausdifferenzierung der Milieus. Kirche erreicht zwei bis drei Milieus; vor allem die konservative, bürgerliche Mitte und die wird immer kleiner. Vor 30 Jahren war ja dieses Milieu DAS Milieu. Die anderen waren viel kleiner, eher Randerscheinungen. Kirche hatte deshalb auch eine viel prägendere Funktion, da war es viel üblicher, mit Kirche in Kontakt zu sein. Heute ist das Angebot viel größer und alles hat sich viel mehr ausdifferenziert – Jugendliche sagen häufiger auch bewusst, dass sie mal gar nichts nutzen wollen, weil ihnen alles zu viel ist. In Kombination mit der Schrumpfung der kirchenrelevanten Milieus stellt sich schon neu die Frage in der Jugendarbeit: Wie können wir Jugendliche erreichen, die gar nicht typischerweise in unseren Milieus unterwegs sind? Wie können wir eigentlich Jugendarbeit gestalten, die Menschen erreicht, die von Kirche erstmal kein gutes Bild oder die mit Kirche gar nichts zu tun haben, dem Ganzen neutral gegenüberstehen oder indifferent? Wie können wir da kontextueller arbeiten und nicht immer nach dem Motto: „Das hat schon immer funktioniert“?
Und wie könnte man die Jugendliche gut erreichen?
Anna-Lena: Man sollte in deren Lebenswelt und in deren Lebenskontext eintauchen und gemeinsam mit ihnen Jugendarbeit entwickeln. Also nicht sagen: Das ist das, was du brauchst. Und das ist das, was ich denke, das du brauchst, sondern sie zu fragen: Was würde dir Spaß machen? Es hilft auch, Jugendarbeit „out of the box“ zu denken, Jugendarbeit ist nicht per se: Freitagabend, 20 Uhr im Gemeindehaus, alle sitzen im Kreis und singen „Feiert Jesus-Lieder“. Eine Herausforderung ist heute schon, dass man sich regelmäßig trifft. Die Verbindlichkeit verändert sich. In manchen Gemeinden können daher Projekte und Aktionen funktionieren, wo man mehrmals die Woche für eine gewisse Zeit zusammenkommt und ein Thema bespielt. Kurzweilig und intensiv.
Carina: Gleichzeitig höre ich, dass bei manchen Vereinen oder Gemeinden solche projektbezogenen Angebote sehr gut funktionieren, in anderen gar nicht. Da fragt man sich: Woran liegt das? Ich glaube, vieles kann man gar nicht richtig fassen. Wir befinden uns in so einem wabernden Zustand, in dem ganz viel auch einfach Try & Error ist. Andererseits ist es natürlich auch eine riesige Chance zu sagen, wir können nicht mehr auf die Dinge zurückgreifen, die mal gut funktioniert haben. Wir müssen eh was ausprobieren. Dann lasst uns doch die Chance nutzen, wirklich etwas ganz Anderes auszuprobieren. Rauszugehen und zu schauen: Was brauchen die Jugendlichen und wo können wir anfangen?
Im letzten Jahr wurde die Toolbox Jugendarbeit gelauncht, um Jugendarbeit out of the box zu denken. Könnt ihr erzählen, was das ist?
Anna-Lena: Die Toolbox ist aus dem Buch heraus entstanden, dass Florian Karcher, Katharina Haubold und Lena Niekler 2019 veröffentlicht haben „Jugendarbeit zwischen Tradition und Innovation. Fresh X mit Jugendlichen gestalten“ (Neukirchener Verlag). Der Ansatz in dem Buch war, die Theorie mit der Praxis zu verknüpfen und möglichst viele Praxisimpulse zu setzen. Darin wurden ganz viele Tools aufgeschrieben, die man in der eigenen Jugendarbeit ausprobieren kann, um ein bisschen Fresh X-Luft zu schnuppern. Insbesondere für Jugendarbeiten, die bereits bestehen, die aber sagen, dass sie sich mitten in einem Veränderungsprozess befinden oder für Gründungsprojekte Das Buch ist an die „Serving-first-Journey“ von Fresh X angelegt, wo man verschiedene Phasen durchläuft.
Es gibt ja aber auch Menschen, die nicht so viel Zeit zum Lesen haben und da dachten wir, dass es cool wäre, wenn es ein paar Video-Tutorials gäbe, die einige der Methoden kurz und easy erklären und zeigen, wie man sie anwenden kann. In der ersten Phase der „Serving-first-Journey“ geht es z. B. ums Hören auf Gott und auf den Kontext. Und dazu haben wir ein Video-Tutorial gemacht, das erklärt, wie man eine Kontextanalyse im Umfeld machen kann. Was braucht es dafür? Muss unsere Jugendarbeit wirklich das fünfte Angebot sein, das es am Markt gibt oder könnten wir nicht auch in eine Lücke jumpen, die es im Sozialraum gibt? Wir haben diese Methoden aufgearbeitet, mit Jugendarbeiten vor Ort ausprobiert, reflektiert und in den Video-Tutorials zusammengefasst. Für die Jugendleiter:innen gibt es noch Begleitmaterial mit Tipps, um das Ganze gut durchzuführen.
Gucke ich mir die Videos der Toolbox an, um zu einer anderen Haltung in der Jugendarbeit und gegenüber meinen Jugendlichen zu kommen oder kann ich das auch nutzen, um z.B. nach der Konfirmation eine Jugendarbeit neu aufzuziehen – angelehnt an die fertigen Stundenentwürfe, die man häufig findet?
Anna-Lena: Es ist eine Mischung, würde ich sagen. Es geht viel um Haltung und das Grundsätzliche dahinter: Warum machen wir eine Kontextanalyse? Weil wir den Sozialraum dahinter entdecken wollen. Was wollen wir da entdecken? Und so weiter. Und gleichzeitig sind es ganz konkrete Tools, die man machen kann, inkl. Vorbereitung, Durchführung, Reflexion. Aber es sind keine klassischen Stundenentwürfe. Es ist eher ein Handwerkszeug, das ich auf meinen Kontext anpassen kann und das mir hilft, grundsätzlich Veränderungen neu zu denken. Wenn man in einem umfassenden Veränderungsprozess steckt oder vor einer Neugründung steht, sollte man auch noch mal das Buch zur Hand nehmen.
Vorhin habe ich euch gefragt, ob Digitalisierung de Zukunft der Jugendarbeit ist. Jetzt würde ich die Frage gerne noch mal neu formulieren: Ist Fresh X die Zukunft von Jugendarbeit?
Anna-Lena: Es ist mindestens ein sehr guter Weg. Ich würde nicht ausschließen, dass es nicht auch andere Wege gibt. Es ist auch nicht das Label, nicht Fresh X an sich, sondern die Haltung, hörend und fragend unterwegs zu sein. Es geht um die Bereitschaft, Dinge neu auszuprobieren, mit den Menschen zu gestalten und nicht für sie. Diese Grundhaltungen sind sehr, sehr wertvoll für die Zukunft der Jugendarbeit.
Carina: Würde ich auch so sagen. Die Haltung ist sehr wichtig. Und sie ist noch nicht überall angekommen. Es ist ein Weg, den man ausprobieren darf.
Gute Beispiele gesucht
Die Toolbox soll in eine zweite Runde gehen. Dafür werden Beispiele gelungener Jugendarbeit gesucht. Keine „Best Practice“, sondern „Good Practice“-Angebote, wo Jugendarbeiten etwas Neues ausprobiert oder, Veränderungen durchgemacht haben. Jugendarbeiten können vorgeschlagen werden oder sich selbst bewerben und dann vielleicht Teil der 2. Toolbox sein, wo in kurzen Videos gelungene Beispiele vorgestellt werden und zum Nachmachen anregen.
Mehr Informationen und Bewerbungsmöglichkeiten gibt es hier.